Eigentlich finde ich es schade, dass auf Skyes Autismus schon in den Ankündigungen hingewiesen wurde.
Der Begriff Autismus beschreibt eine Vielzahl angeborener Zustände des menschlichen Geistes, die nur eines gemeinsam haben: die Verarbeitung von Sinneseindrücken ist eine andere als die der meisten nicht-autistischen Menschen. Sämtliche Informationen der umgebenden Welt stürzen völlig ungefiltert und ungeordnet auf die Psyche ein, also reagiert man darauf entweder völlig erratisch, unerwartet genialisch – oder durch Rückzug. Dass Elon Musk und Greta Thunberg gewisse Gemeinsamkeiten teilen, ist jedem klar. Aber nicht alle Autisten gehören diesem Spektrum an, dem man bis vor kurzen den Namen »Asperger-Syndrom« gab. Die wohl meisten Autisten haben nicht dieses Kommunikationsbedürfnis, sie fühlen sich vielmehr eingekapselt und in ihrer Kapsel zwar sicher, aber nicht unbedingt wohl. Manche sind »sprachlos« oder zumindest eingeschränkt in ihrer Fähigkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Inzwischen ist klar, dass diese Einkapselung kein bleibender Zustand sein muss. Auch dieses Theaterstück legt davon Zeugnis ab.
Gleichwohl hätte ich eben – so denke ich im Nachhinein! – es mir lieber angeschaut ohne die Vorwarnung, dass der Autist Skye während der Premierenvorstellung womöglich ganz anders agieren könnte, als von ihm erwartet.
Ich weiß nicht, ob Skye das tat. Ich weiß nicht, was vorgesehen war, und ob er sich daran gehalten hat oder nicht. Ich weiß nur, dass er mich beeindruckt hat!
Die Vorstellung beginnt um 18:00 Uhr.
Der Raum ist – was er aber nur auf den zweiten Blick preisgibt – eine offenbar für diese Aufführung zum Spielort umfunktionierte Kirche. Lediglich die Symboliken an einem den Chorraum überspannenden Gewölbe verraten dies. Die ebenerdige Bühne ist aber seitlich zum Chor aufgebaut, nicht in Gebetsrichtung. Dass es sich um ein Gotteshaus handelt, spielt also vermutlich keine Rolle.
Die Bühne ist durch einen rechteckigen Teppich markiert, mittig auf dem Teppich liegt eine Plastikplane unter einem Wäscheständer.
Die Mauer im Hintergrund zeigt in regelmäßigen Abständen hellere Stellen, staubfreie Quadrate, als seien dort Bilder abgehängt worden, eine Ahnengalerie; ich vermute (aufgrund ihrer Anzahl und der Tatsache, dass wir uns in einem Kirchenraum befinden), dass sich dort religiöse Bilder mit den Stationen der Passion Christi befunden haben, der Kreuzweg. Ob die Bilder extra für das Stück abgehängt wurden, weiß ich nicht.
Was ich aber richtig einzuschätzen glaube (da ich ja Nikša Eterovićs Detailversessenheit kenne, wenn es um dezente Hinweise in der Raumgestaltung geht): Dass es kein Zufall ist, dass wir als Bühnenhintergrund nun diese hellen Flächen sehen, eben dieses Fehlen bestimmter Referenzpunkte; als ob hier gleich die Geschichte von jemandem erzählt würde, der sich erst noch eine Bildergalerie ins Leben hängen muss:
Erinnerungen an Momente, die dem Glauben an sich selbst eine Basis und sicheren Halt geben. Neue Bilder, das Gegenteil eines Kreuzwegs.
Rechts hingegen sind dann doch, auf engstem Raum, einige Fotos aufgehängt.
Ich schätze, sie stellen Skye als Kind dar. Natürlich hat jeder Mensch Erinnerungen, die ihm kostbar sind. Aber wie um diese Erkenntnis sogleich Lügen zu strafen, ist ebenfalls rechts, den Zuschauerraum flankierend, eine leere Filmleinwand aufgestellt. Sie wird während der Aufführung nie bespielt werden, und ich werde am Ende nicht erfahren, ob das einfach einer Laune Skyes zu verdanken ist (es steht ihm, wie mir zuvor erklärt wurde, immerzu frei, Szenen auszulassen oder zu verändern, wenn er sich damit unwohl fühlt), oder ob es ein erneuter Hinweis ist:
Ja, es gibt Erinnerungen und Bindungen, aber der wahre Lebensfilm mit Skye als Hauptdarsteller will erst noch gedreht werden. Die Möglichkeit, diesen Film zu präsentieren, ist ja gegeben!
Und schon stürmt Skye von rechts auf die Bühne. Allein – und nicht, wie im Programmheft angekündigt, sofort in Begleitung seiner Spielpartnerin Barbara Sadowski. Er stellt sich vors Publikum, breitet die Arme aus und sagt: »Ich …!«
Er genießt es sichtlich und zeigt dabei ein gewinnendes, leicht ironisches Lächeln, wie um sich selbst und allen Anwesenden klar zu machen, dass diese Geste, die ihm bislang so fremd war und ihm so viel an Überwindung abverlangte, letztlich kein großes Ding sei; dass sie sein Recht ist und eine Selbstverständlichkeit. Ich bin. Skye vielleicht. Ein Ich jedenfalls. Ich will. Ich will nicht. Ich kann entscheiden. Ich erlaube es mir.
Und in diesem Augenblick wird jedem klar, was hier geleistet wurde.
»Ich will kein Inmich mehr sein!« schrieb der autistische Poet Birger Sellin in den 90er Jahren. Der nannte sich auch, glaube ich, einen »Kastenmenschen«. Skye hat heute Abend sein Kastenmenschsein verlassen und ist – zumindest für die Zeit dieser Aufführung – von einem Insich zu einem Ich geworden, das »sich selbst ermächtigt« (um ein allzu oft nur schal daherkommendes Schlagwort der Woke-Bewegung aufzugreifen), ein selbstbewusstes Wesen, das sich die Freiheit gibt, den bedrohlich anstürmenden Sinneseindrücken etwas entgegen zu stellen. Nicht ein Fels in der Brandung, aber ein keineswegs so leicht mehr hinweg zu spülendes Uferpflänzchen mit sich bereits verankernden Wurzeln.
Die Spielpartnerin hat ihn diesen Moment wohl bewusst auskosten lassen und betritt Sekunden später die Bühne. Natürlich bedarf er jetzt ihrer ihm Sicherheit versprechenden Anwesenheit; aber jeder Jungschauspieler, der zum ersten Mal alleine ein Stück eröffnet, bedarf ja eines solchen Halts.
Man sieht ihm keineswegs an, dass er sich überwinden musste und nun unterstützt werden muss, im Gegenteil:
Obwohl – oder weil – er die zum Publikum gerade aufgebaute Verbindung nicht mehr abbricht, sich der Zuschauenden also sehr bewusst bleibt (und die Zuschauer ihrerseits in seinem Bann belässt), bewegt er sich durch die imaginären Räume des Stücks mit schlafwandlerischer Sicherheit, als habe er nie etwas anderes getan, nie etwas geksannt, als sich Blicken und Urteilen anderer auszusetzen, und als lasse es ihn keine Sekunde daran zweifeln, dass alles, was er tut, sinnvoll und richtig ist.
Und diese Feststellung ist es wirklich wert, sie zu betonen!
Als Regisseur habe ich oft mit Ensembles gearbeitet, die mindestens zu einem Drittel aus Laienschauspielern bestanden, von denen manche zuvor noch nie auf einer Bühne agiert hatten. Es gibt Talente, denen man das nie ansehen würde, aber sie sind rar. Selbst die begabtesten Anfänger haben Energieabfälle, ihre Körpersprache verrät plötzlich mehr über ihre Unsicherheit als über ihre Rolle, sie zappeln und wissen mit ihren Armen und Beinen nichts anzufangen, da sie ihre körperliche Gegenwart nicht wirklich spüren und also nicht bewusst einzusetzen vermögen.
Nicht so Skye.
Zwar setzt er keine gezielt auf eine bestimmte Wirkung hin ausgerichtete Körpersprache ein, aber sein Körper entgleitet ihm auch nicht. Nie. Kein einziges Mal sehe ich eine unmotivierte, von Unsicherheit oder bloßer Unachtsamkeit hervorgebrachte Ersatzhandlung, sogar die »Tücken des Materials« (als er etwa ein Flaschenxylophon vor sich aufbaut, das Wasser sich aber nicht so in die Flaschen gießen lässt wie beabsichtigt, und es am Ende nicht mehr für alle Gefäße ausreicht), meistert er völlig souverän.
Von jedem anderen Laienschauspieler wäre ein verzweifelter oder entschuldigender Blick in Richtung des Regisseurs – oder zumindest ein unwillkürliches, dem Publikum geltendes, entschuldigendes Schulterzucken – zu erwarten gewesen. Das sind so die Dinge, vor denen es einen mit Laien arbeitenden Regisseur am meisten graut. Aber Skye? Er übernimmt die Verantwortung ohne ein Wimpernzucken und spielt weiter, als sei alles so und nicht anders geplant gewesen. Das ist professionell. Das ist besonders.
Man sollte keine Beschreibung der »Handlung« dieses Stücks von mir erwarten. Soweit ich es beurteilen kann, gab es – wie ja schon der Untertitel »Körner eines Autisten« vermuten ließ – keine stringente Handlung. Es sind Samenkörner, fruchtbare Fragmente eines Ganzen, aber naturgemäß (noch) kein Ganzes. Das Stück hoppst von Szene zu Szene, der einzige »logische« Zusammenhalt dieser Bruchstücke ist Skye selbst.
Und das IST ein Zusammenhalt.
Am Ende dachte ich: Beinah verhält es sich so, als betrachte sich jemand (Skye) in einem zerbrochenen Spiegel; nur eben, dass der Spiegel nur uns, seinem Publikum, eben diesen auf Logik fixierten Spannern, als zerbrochen erscheint.
Für Skye ist da womöglich gar nichts in Scherben, und das zeigt er uns. Er sieht sich in diesen Bruchstücken sehr klar und vollständig, und ich bin geneigt, ihm das abzukaufen.
Nikša Eterović mag als Regisseur des Stücks gelten, aber Nikša war eher der Geburtshelfer!
Ich denke an den Philosophen Sokrates. Der hat noch nicht einmal ein Buch geschrieben, aber er verhalf seinen Gesprächspartnern zu philosophischer Weisheit. Die Philosophen waren am Ende die von ihm zur Philosophie »Verführten«. Vielleicht hat Nikša Skye dazu »verführt«, kein trauriges
»Insich« mehr zu sein.
Der Autor, Regisseur und Darsteller von »Skyes Traum« ist nämlich eindeutig Skye selbst. So war es ja auch angekündigt. Was bei einer Aufführung passiert oder nicht passiert, entscheidet letztendlich Skye. Und zwar zum Einen grundsätzlich, aber auch von Aufführung zu Aufführung. Es mag ein Rahmen vorgegeben sein, aber innerhalb dieses Rahmens darf sich seine Persönlichkeit entfalten oder die Entfaltung verweigern.
Zumindest in dieser einen Aufführung, die ich gesehen habe, war von Verweigerung nichts erkennbar, und dieser Mensch Skye nahm mich gefangen! Seine Persönlichkeit war raumgreifend und groß. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ich diesen Darsteller in einem eigenen Stück gerne einsetzen würde. Was aber sehr wahrscheinlich Wunschdenken bleibt, da der Druck, der während des Entstehungsprozesses eines Stücks auf mir lastet, es selten zulässt, so intensiv auf meine Darstellenden einzugehen, wie es Nikša in diesem Fall getan hat.
Eine Szene will ich doch noch beschreiben.
Skye hängt Wäsche auf.
Die Idee stammt ursprünglich ganz sicher von Nikša, Wäscheaufhängen ist ein wiederkehrendes Motiv bei ihm, warum auch immer.
Aber dann hängt Skye die Wäsche ja gar nicht so an den Wäscheständer, wie man es erwarten würde. Er stopft sie mit erkennbarer Lust zwischen die Drähte, als wäre sein allerletzter Gedanke der, die Wäsche wirklich zum Trocknen zu bringen.
Das letzte Wäschestück ist zudem so pitschnass, dass ganze fünf Minuten lang das Wasser auf die darunter ausgespannte Plastikfolie tropft. Und das ist – ein Erlebnis! Der Rest der Szene ist nämlich sehr still und wird nur akustisch begleitet von dem tropfenden Wasser, das sich exakt wie Regen an einem windstillen Tag anhört, wie ein Frühlingsregen oder ein erlösender Regen nach allzu heißen Sommertagen.
Autisten werden überwältigt von Sinneseindrücken, heißt es. Aber gerade bin ICH überwältigt vom Klang heruntertropfenden Wassers, und also verführt mich Skye gerade in seine Welt.
Am Ende der Vorstellung, nach dem Applaus, ergreift Nikša Eterović das Wort und gesteht, dass er diese Arbeit für seine »überhaupt erste Regie« hält.
Später, im persönlichen Gespräch, wiederholt er die Aussage, und ich frage mich unwillkürlich, ob das nur eine im Überschwang des Premierenerlebnisses (im glücklichen Bewusstsein, dass alles glatt gelaufen und die Arbeit erfolgreich abgeschlossen werden konnte) geäußerte, übertriebene Einschätzung ist, oder ob er das auch später noch genau so sagen wird. Immerhin weiß ich ja, dass der Mann schon 2012, als ich an der von ihm gegründeten Theaterschule meinen Abschluss machte, weit über hundert Regiearbeiten abgeliefert hatte. All das gibt mir zu denken, und ich komme zu dem Schluss, dass er es tatsächlich ernst meint.
Regie im Theater wird oft – selbst von Regisseur:innen! – missverstanden als eine Instanz, die ihr eigenes, künstlerisches Konzept gegen alle Widerstände durchsetzt: gegen die Fallstricke eines widerborstigen Textes, gegen vielleicht sich sträubende Schauspieler:innen, gegen die Tücken von Technik, Bühnenbild, Requisiten. Als sei die regieführende Person eine Art Rammbock zur Durchsetzung künstlerischer Ambition und einziger Garant für den »Wert« des Ergebnisses.
Das ist schon im »gewöhnlichen« Theater eine äußerst problematische Sichtweise (und für Regieführende alles andere als der Königsweg!), denn gutes Theater braucht das
Zusammenfließen unterschiedlicher Lebenserfahrungen und Ansichten, die persönlichen Einbringungen aller Beteiligter; selbst den Eigenheiten des Orts und der materiellen Dinge, die verwendet werden, sollte Aufmerksamkeit gezollt, ihre Präsenz und ihr manchmal unberechenbarer Charakter sollten gewahrt und stets als Chance begriffen werden. Auch im gewohnten Theater ist es also eine nicht unwesentliche Aufgabe der Regie, im richtigen Moment Zurückhaltung zu üben und den Dingen ihren Lauf, ihr Eigenleben zu lassen.
In einem Theater jedoch, in dem ein therapeutischer Aspekt (zugunsten der Schauspielenden) eine Rolle spielt, ist es geradezu unabdingbar, dass die Regie sich von den auf sie angewendeten Rollenklischees lossagt.
Zwar ist die Aufgabe der regieführenden Person immer noch in erster Linie, ihr professionelles Know-how als Schöpfer:in von Theaterstücken einzubringen (Ersinnen eines tragfähigen Konzepts, Ausarbeiten einer Stück-Idee und einer dazu passenden Ästhetik, Probenorganisation, Führung der Schauspielenden, sinnvolle Ausstattung der Bühne, Entscheidungen über den Einsatz technischer Mittel usw.). Aber bereits das »Festzurren« der während des Entstehungsprozesses gefundenen Stilmittel und Sinnfragmente zu einer ursprünglich intendierten Gesamtaussage, wie man es üblicherweise von jeder Regie erwartet, muss nun hinter die Bereitschaft zurücktreten, selbst am Ende des Prozesses noch für Überraschungen offen zu sein und empfänglich für die Geistesblitze der Person, um die es geht.
Wenn Nikša Eterović sagt, er sehe diese Arbeit quasi als seine »überhaupt erste Regie«, dann vermutlich auch deshalb, weil er es (erstmals?) bewusst zugelassen hat, dass sein Hauptdarsteller sich so frei wie irgend möglich auf der Bühne entfalten konnte, ohne jedoch den vordefinierten Rahmen aufgeben zu müssen; weil es ihm gelungen ist, in diesem Darsteller die Freude an der Selbstdarstellung zu wecken und ihn seine gestaltende Anwesenheit inmitten der (ihn ansonsten oft heillos überflutenden) Realität fühlen zu lassen – so sehr, dass Skyes Bühnenpräsenz und Sicherheit im Auftreten die mancher angehender Schauspieler:innen deutlich übertraf!
Und nicht zuletzt: Weil ein routinierter Regisseur wie Nikša Eterović in diesem Falle vermutlich keinen einzigen der ihm zur Verfügung stehenden »Tricks« anwenden konnte, mit denen man für gewöhnlich Schauspielende »fängt« und sie dazu bringt, ihre Rolle im Sinne der Vorgaben zu spielen. Er musste anders vorgehen, neue Methoden entwickeln, lernen. Und das ist beneidenswert.
Aber dieser Abend gehörte Skye. Er ist beeindruckend. Ich bin sehr gespannt zu erfahren, was in ein paar Jahren aus ihm geworden sein wird. Theater hat im offensichtlich gut getan.
Wer vermag zu sagen, ob daraus nicht sogar eine lebenslange Beziehung wird?
Fränk Heller
Theaterregisseur