ART AGAINST PAIN
Im Roten Rahmen: Ukraine
Ein Erfahrungstagebuch.
von Nikša Eterović und Regina Kalysch
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… im Bus nur Frauen … du triffst jemanden, der dir etwa fünfzehn Sekunden lang in die
Augen schaut und dir mit beiden Händen die Hand schüttelt … Ich empfand große
Aufregung, als ich nach vier gemeinsamen Stunden, etwa gegen achtzehn Uhr, zum ersten
Mal den roten Rahmen zeichnete und dadurch das Licht in der Galerie der inneren Bilder jedes Einzelnen anschaltete … jetzt werde ich diese verborgenen Galerien betreten … „Kämpfe und du kannst gewinnen“ – eine Zeile aus Taras Shevchenkos Gedicht, seine Poesie trug wesentlich zur Entwicklung der modernen ukrainischen Sprache und des Erwachens des
ukrainischen Nationalbewusstseins bei … mehrere Fotos von 2014 auf dem Maidan, V. und sein Freund mit der Flagge der Europäischen Union, Fotos von vielen Menschen … ein Foto vom Abriss der Lenin-Statue … Ich lebe hier in einem Vakuum – so fühle ich mich wirklich; ein Wirbel, ein Strudel, ein Wasserfall, eine Explosion von Beobachtetem, Assoziiertem,
Erlebtem … alles mit mir in der einzigen Welt, die mir gehört … das ist ein Erfahrungstagebuch … innere Bilder … manche zum Beiseitelegen, manche zum Behalten;
manche, um abzuschließen, neue zum Beginnen … es ist an der Zeit, unterwürfig vor jedem Neugeborenen zu knien und um Vergebung und Gnade zu bitten, weil wir unsere Kinder in diese unsere Welt gebracht haben – eine Welt voller Kriegszerstörung, Klimakatastrophe, Schulden und allem, was wir getan und als Vermächtnis hinterlassen haben, damit nun sie damit umgehen müssen … Welche Strafe ist angemessen für das, was Putin und seine Anhänger heute tun? …
Art Against Pain wird seine Arbeit beharrlich fortsetzen! …
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Nikšas Tagebuch, 28.06.2023
Der Busbahnhof in Warschau: es ist chaotisch, es ist laut…
Ein junger Mann kommt auf mich zu, drückt mir ein Fläschchen – offenbar ein Parfümflacon – in die Hand und bittet mich, ihm dafür ein Ticket nach Berlin zu kaufen, wobei er immerzu „Ukraina“ ruft. „Ukraina, Ukraina“.
Das Stadtzentrum hingegen ist entspannt und dynamisch. Ich genieße es, durch die Straßen der Innenstadt zu bummeln.
29.06.2023
An der ukrainischen Grenze will ich mir in der Bahnhofskantine einen Kaffee holen; aber da ich leider kein Bargeld dabei habe, muss ich wohl abreisen, ohne mein Verlangen stillen zu können. Keine zwei Minuten, nachdem ich mich damit abgefunden habe, tritt von der Seite ein Mann mit einem Kaffee in der Hand auf mich zu und reicht mir den Becher. – „Ich habe leider kein Geld“, sage ich. Er erwidert: „Du brauchst kein Geld, nimm einfach! Der ist für dich, Bruder!“
Und so bin ich, nun glücklich ausgestattet mit einem Becher Kaffee, heute in die Ukraine eingereist.
Im Bus, ein paar hundert Kilometer vor Kiew: Auf dem Sitz direkt hinter mir höre ich Schreie, dann Tränen, lautes untröstliches Weinen. Dem Mädchen wurde gerade mitgeteilt, einer der Ihren sei im Krieg gefallen. Ich höre nicht, um wen es geht. –
Es sind übrigens nur Frauen im Bus…
Der Bus erreicht sein Ziel ganze zwei Stunden vor der planmäßigen Ankunftszeit schon kurz vor 21 Uhr. Also niemand da, um mich abzuholen. Das Internet funktioniert nicht, ich kann niemanden anrufen. Ich versuche, mich dieser ersten Herausforderung zu stellen, indem ich einen Taxifahrer um Hilfe bitte.
Es ist R. die sich unter der Nummer, die der Fahrer in meinem Namen anruft, nach wenigen Klingeltönen meldet. Kurz darauf willige ich ein, dass er mich zu der angegebenen Adresse bringt…
Er verlangt 50 Euro. Und will nicht losfahren, bevor er nicht das Geld in seiner Brieftasche hat. Und ich habe doch nur meine Bankkarte. Also fährt er mich zum erstbesten Automaten, der dann allerdings (zum Glück, wie ich erst noch erfahren werde) gar nicht funktioniert…
Irgendwie überspringen wir die nun eigentlich erwartete, hitzige Diskussion, und er fährt mich tatsächlich zu meinen Gastgebern, die bereits auf der Straße warten… Dann folgt allerdings doch noch eine heftige Diskussion mit dem Taxifahrer, der mich nämlich (als er bemerkte, dass ich Ausländer bin), wohl um das Zehnfache des Fahrpreises abzocken wollte. – Der Fahrpreis für diese Strecke hätte tatsächlich nur 5 Euro betragen. Nachdem ihm mit der Polizei gedroht wird, gibt er sich zwar nicht ganz geschlagen, aber immerhin mit „nur“ 40 Euro zufrieden; der Streit wird aus ganz anderen Gründen rasch beigelegt, nämlich weil alle Beteiligten in Eile sind: in 15 Minuten beginnt die nächtliche Ausgangssperre. –
Unter dem Fenster der Wohnung, in der ich untergebracht bin, steht ein Militärfahrzeug.
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Ich weiß nicht gar nicht, wie wir in unserem mitternächtlichen Gespräch auf das Thema „Nachnamen“ gekommen sind. Ich habe Nachnamen sicher noch nie so viel Bedeutung beigemessen wie in diesem Gespräch.
Durch die Änderung einiger der letzten Buchstaben wird man mit Leichtigkeit Teil einer anderen Bevölkerungsgruppe, gar eines anderen Volkes…
Beispiel: Aus einem gewissen Shoytzhet, einem Juden, wurde zuerst Reznik, dann Reznichenko (als Ukrainer), schließlich wurde er Russe und heißt jetzt Rezichenkov…
Diese Strategie der Änderung von Nachnamen wurde offenbar von Stalin sehr erfolgreich angewendet – und einige der damit verbundenen Ideen sind jetzt wieder sehr aktuell. Angst fragt nicht lange, was zu tun ist, wenn sie bewusst geschürt und zur Unterdrückung eingesetzt wird.
Mich schockiert, welche Dimensionen von Kontinuität die Unterdrückung aufweist.
Das Gespräch endet mit der Aussage meines Gastgebers, dass mein Nachname Eter sei und dass ich die Endung -ović nicht ändern, sondern nur streichen müsse …
Eter! – nun ja, das ist seit meiner Schulzeit mein Spitzname.
30.06.2023
Der erste Weg nach draußen führt uns zu einer Ausstellung, die noch im Entstehen ist; eher handelt es sich um eine Sammelstelle für Kriegstrophäen aus dem tobenden Krieg;
Kämpfer ergänzen die Sammlung freiwillig mit ihren Trophäen, wenn sie von der Front zurückkehren. Die Arbeit der Ausstellungsleiter ist völlig ehrenamtlich, die Objekte werden ihnen umsonst zur Verfügung gestellt, – und wie mir einer von ihnen, der sich gerade im Fronturlaub befindet und bald wieder an die Front zurückkehren wird, beteuert: „Das ist unsere Art, das Erlebte zu verarbeiten“.
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Ich wollte ins Theater gehen, kann es aber nicht – die Vorstellung ist ausverkauft, und es ist die letzte der Saison.
Die Wand des Theatergebäudes ist mit Sandsäcken geschützt: – um Zerstörungen durch Angriffe zu verhindern, erzählen mir meine Gastgeber. Es gibt einige auf diese Weise geschützte Gebäude.
Aber kann das wirklich helfen? Mir scheint, es geht dabei eher um eine Botschaft, eine Mahnung: dass es wichtig sei, sich selbst zu schützen!
Am Abend ziehe ich in eine andere Wohnung, in einem Hochhauskomplex: Wohnheime für Hunderttausende Bewohner dieser Stadt.
Der Gastgeber ist Russe, Staatsbürgerschaft ukrainisch. Seine Frau und seine beiden Töchter haben Flüchtlingsstatus im Deutschland und leben dort bei Bekannten.
Das Detail, dass seine Frau die russische Staatsbürgerschaft behalten hat, während er die ukrainische Staatsbürgerschaft annahm, scheint mir bedeutsam.
Er ginge natürlich ungern an die Front, aber wenn er müsste, würde er die Rekrutierung in die ukrainische Armee akzeptieren. Die Ukraine sei sein Zuhause, sagt er.
Er wartet. Und hofft, dass er nicht gerufen wird.
Er habe mehrere Bücher veröffentlicht, erzählt er mir; er sei ein russischer Schriftsteller, sagt er.
01.07.2023
Den größten Teil des Tages verbringen wir im Partisan Glory Park. Dort befindet sich auch das Museum, in dem wir arbeiten werden. Y. führt uns – brillant und ausführlich! – durch die Geschichte der Besatzung. Die Menge an Informationen übersteigt bald meine Fähigkeit, sie zu verarbeiten. Wir vereinbaren daher, dass wir uns den Exponaten ab sofort immer nur einzeln widmen werden, und zwar so, dass wir während der gesamten Zeit, in der wir hier arbeiten, uns tatsächlich jeden Tag eine halbe Stunde für ein einzelnes Exponat die Zeit nehmen.
Wir haben uns auf einen Raum geeinigt, in dem wir arbeiten werden. Langsam entsteht in meinem Kopf ein zusammenhängenderes Bild. Das wird mir sehr helfen, wenn ich zum ersten Mal diese Menschen treffe, die mit uns arbeiten wollen.
Der Park ist weitläufig und ansprechend. Es gibt Spaziergänger, aber nicht allzu viele. Direkt am Eingang Wasserfontänen, Kinder toben herum und planschen dort. In mir bohrt und bohrt der Gedanke, in was für einer Welt diese Kinder aufwachsen…
Die Themen, die Gedanken und Sorgen, mit denen ich in dieser Stadt konfrontiert werde, kreisen um: die Kinder, ihren Schutz – und um Diebstahl, Umbenennungen, um Weggenommenes – um Passwörter, Losungen – um das Bewahren und Aufbewahren der wichtigen Dinge… Ich habe mich mit vielen ausgetauscht! – Diese verdammten Aggressoren haben, das ist ja offensichtlich, eine lange Tradition, bestehende Identitäten auszulöschen, eine Identität in eine andere umzubenennen; und das alles wurde ja die längste Zeit über den Leuten mit viel Geduld, scheinbar verständnisvoll, sanft und mit einem Lächeln beigebracht! Es erinnert mich an eine Spinne, deren Netz ja auch zuerst so hauchzart erscheint… Aber eine Spinne kann eben auch jeden Moment zubeißen mit ihren Kieferklauen voller Gift.
Die Menschen sind wütend, die Menschen haben es satt, in Angst zu leben. Je stärker sie jetzt ins Visier genommen werden, desto entschlossener sind sie, die Angreifer abzuwehren. Ja, wirklich: Was dieser Angreifer bewerkstelligt, gleicht einem stinkenden Hautausschlag, einem Fleck auf einer empfindlichen Haut. Die Haut will diesen Fleck nicht, die Haut weint, – aber schließlich wehrt sie sich dagegen! Mit jeder neuen Begegnung, jeder Stunde meines Aufenthaltes hier, aufgrund einer Vielzahl von Details, die für jeden oder nur für diejenigen erkennbar sind, die eifrig nach solchen Details suchen, werde ich mir sicherer, dass der Angreifer auf dem militärischen Feld besiegt werden wird. Das Pflaster auf der erkrankten Stelle wird man dann wegwerfen können.
Eine Frau auf der Straße verkauft Lithographien eines Künstlers (derzeit gibt es keine Käufer, weil keinen Tourismus) und lädt R. und mich zu einem Gespräch über diese Werke ein. Es ist eine Freude, ihr zuzuhören. Für einen kurzen Moment rutscht ungewollt der Ärmel ihres T-Shirts ein wenig hoch, und ich erkenne ein dünnes Stoffband an ihrem Arm: die ukrainische Flagge. –
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Bei einem Abendgespräch in einem georgischen Restaurant – zwei junge ukrainische Paare sind dabei, insgesamt sind wir sieben Gäste, fast alle in den Dreißigern, ich selbst erhöhe natürlich das Durchschnittsalter, ergreift sie (eine Masterstudentin der Judaistik auf der Suche nach einem Job) das Wort und äußert ganz deutlich und ohne zu zögern:
„Man muss sagen, dass zur Zeit der UdSSR der vorherrschende Einfluss in der Ukraine russisch war, und dass man dem ja durchaus auch einiges Positive abgewinnen kann; oder eben, wenn man die Tatsache der russischen Besatzung beim Namen nennt, dass man es ebenso als etwas Negatives darstellen kann, und dass man es damals eben als beides wahrnahm! Ich stimme also zu, dass man diese Zeit auf die eine oder andere Weise sehen kann. – Jetzt aber ist dieses Gleichgewicht gar nicht gegeben, ganz fraglos ist nämlich, was heute passiert, nichts als Besatzung, Angriff, Gewalt…, und egal wie viele es sind: Sie haben keine Chance!“
Später kommt die DDR ins Spiel, weil einer der Anwesenden in Ostdeutschland geboren wurde.
Es geht auch noch um weitere Länder. Und natürlich um Jugoslawien…
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Und ich schlafe in einem Wolkenkratzer, im Kinderzimmer eines Mädchens, das jetzt eine Geflüchtete ist, an der Wand hängen eine amerikanische Flagge und Zettel mit handgeschriebenen Sätzen auf Englisch, wohl von einer Freundin aus einem Schüleraustausch mit dem Ausland? – Einige der Sätze und Slogans kopiere ich in mein Heft: BE YOURSELF!
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02.07.2023
Alarm, zweimal heute Nacht! Kiew wurde von Drohnen angegriffen, der Angriff konnte aber zu 100% erfolgreich abgewehrt werden.
Ich begebe mich sehr ruhig mit den Sieben zum ersten Arbeitstreffen. Ich spreche während dieser sechs Stunden Arbeit nur wenig, und wenn ich doch spreche, benutze ich eine Kombination aus Englisch und Deutsch mit Elementen aus dem Kroatischen, also mit Wörtern, die auf ukrainisch ähnlich lauten.
Wie sich dann alles, was wir mit einander besprechen – auch mit Hilfe von kombinierten Teilübersetzungen, zu denen jeder beisteuert – völlig stressfrei zu einem für alle verständlichen Gespräch entfaltet, finde ich gerade unglaublich interessant.
Was sind Worte? Wie teilst du dich den Menschen mit?
In dieser Phase werden sie vor allem von mir befragt, und ich spüre, dass mein Fragen organisch ist, wie ein Rollen in meiner Mundhöhle (Ich bin mir auch im Nachhinein ganz sicher, dass die Fragen verständlich waren, während sie unsicher gesprochen wurden).
Wir stehen im Kreis und bewegen uns dann in der Runde weiter, der Reihe nach blicken wir alle etwa zwanzig Sekunden lang in die Augen unseres jeweiligen Gegenübers… So beginnt dieser Prozess… Verwirrung!
Ich habe das erste Treffen in drei Phasen unterteilt, und alle drei Teile zielen darauf ab, näher an die Person, an ihre eigentliche Mitte, heranzukommen.
- wird ein Arbeitstagebuch führen: Prozesse, die sie beobachtet.
Ich habe dabei das Gefühl, wie in einem Vakuum zu arbeiten. Auf engstem Raum. Und es ist, als ob wir alle auf etwas warten würden.
Als ich nach vier gemeinsamen Stunden, etwa so gegen achtzehn Uhr, zum ersten Mal den roten Rahmen zeichne, bin ich doch sehr aufgeregt.
Mir ist klar, dass ich damit dass Licht im Schutzraum der inneren Bilder jedes Einzelnen angeschaltet habe, und dass ich nun diese verborgenen Galerien betreten werde.
Ich gebe allen einen Stift – um sanft in ihren Zufluchtsort einzutreten, diesen Aufbewahrungsort für innere Erlebnis-Bilder.
Sie haben mir das erste bereits gezeigt.
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Mein Gastgeber sagt, dass es in den ersten zwei Wochen nicht ungefährlich war, in diesem Teil Kiews überhaupt auf die Straße zu gehen, da „einige Leute“ vom Balkon aus auf die Straße schossen. Ich verstehe nicht, wer sie waren: einige Leute? –
Die Architektur der Wolkenkratzer in dieser Gegend, in der ich wohne, hat eine erschreckende Wirkung auf mich. Du kannst nur hinein, wenn du einen Chip hast – oder halt die betreffende Nummer auf dem Klingelschild kennst, denn alle Wohnungen sind durchnummeriert; die Eingangstür ist aus Metall, etwas rostig, aber das eigentliche Türenlabyrinth beginnt erst dahinter. Zuerst geht es direkt noch einmal durch eine Glastür, dann entweder zu den beiden Wohnungstüren auf der einen Seite oder in eine Nische zum Aufzug, oder aber gleich nach dem Eingang links zu einer Treppe, sehr schmal, wo dich aber sofort noch eine weitere Metalltür mit Vorhängeschloss erwartet; nach der schmalen Treppe folgt wieder eine teilweise verglaste Tür zu einem Balkon-Flur, nach diesem geht es ein paar Meter nach links, nochmal nach links durch eine Tür, dann wieder über einen Flur, von dem aus man direkt zu einer Kreuzung mit weiteren Türen vorgehen, oder auch nach links abbiegen kann; wir müssen stattdessen durch eine der erwähnten Türen, und theoretisch wären wir dann „schon“ in der Wohnung, nur dass sich direkt hinter der Eingangstür noch einmal eine weitere Tür anschließt und man erst, wenn man auch diese hinter sich gelassen hat und sich gleich nach links wendet, endlich diese beeindruckende Doppeltür benutzen kann…, und das ist jetzt eine wirklich sehr dicke, sichere Tür mit zwei Schlössern und zusätzlicher, optionaler Sichtschutzvorrichtung! Alles Architektur aus der Zeit der Sowjetunion. – Welche Gedanken schwirren mir da durch den Kopf? Ich habe Angst vor meinen eigenen Schlussfolgerungen. —
Die Wohnung allerdings ist freundlich und komfortabel eingerichtet. Hier vergisst du den Türen-Parcours, den du auf dich nehmen musstest.
Als ich nach der Arbeit alleine zurückkomme, finde ich den Eingang zur Wohnung nicht. Es dauert rund zwanzig Minuten, bis ich im Gebäude auf eine gutmeinende Person treffe, die sich bereit erklärt, meinen Gastgeber anzurufen, damit er mich am Eingang abholen kann. Mein Telefon reagiert nämlich nicht, es macht mich noch wahnsinnig… Das passiert immer wieder! Wenn ich also an Orten bin, wo es freies WLAN gibt, kann ich natürlich anrufen, auf der Straße kann ich es nicht, weil mein Mobiltelefon eine andere Kennung hat. Ich könnte eine ukrainische Sim-Karte einsetzen. Das werde ich nicht, oder will ich vorerst nicht, – aber vielleicht muss ich es am Ende doch tun?
Schon vor Mitternacht der nächste Alarm.
Was ist das Ertrag von Angriff und Verteidigung?
Vergleiche ich die TV-Informationen aus dem deutschsprachigen Raum und die (aus dem Index) auf Kroatisch mit solchen, mit denen mich eine ukrainische Fernsehsendung versorgt (welche 24 Stunden am Tag über die Lage auf dem Schlachtfeld informiert), finde ich die Geschwindigkeit des Informationsaustauschs beeindruckend (!) – oder auch erschreckend (?).
Ich habe das heute im Morgengrauen überprüft, als der Alarm losging.
Ich denke an diesen ständigen Informationsfluss, an die Speicherung von Informationen, die Manipulation von Informationen, die Lügen, die einem als Wahrheiten aufgedrängt werden…
Ich frage mich sehr oft, was ich durch die Arbeit hier wissen und begreifen möchte… Warum bin ich hier? Wie kommt es, dass ich damals spontan das Gefühl hatte, die Initiative „Art Against Pain“ starten zu müssen?
Die Erde, unser einziger Planet, ist wie ein Blutstropfen …
ein Blutstropfen reagiert genau wie eine Schneeflocke …
Von einer Schneeflocke
über einen Klumpen
bis hin zu einer riesigen Kugel
und einer Lawine:
ein zu Eis gefrorenes Nichts …
Von einem Blutstropfen
über einen Blutkreislauf
bis hin zu einer weit verzweigten Wurzel
aus geronnenem Blut …
bis der Regen kommt …
ein Regen, der zu Nichts hinweggespült wird.
Reginas Tagebuch (Tag1, Sonntag)
… Mich hat sehr verwundert, dass mit den starken Gefühlen in mir drin und dem Roten Rahmen vor mir, ich gar nicht anders konnte, als dieses Thema in den Roten Rahmen zu packen. Auch wenn ich mein Empfinden in dem Moment gerne ausgeklammert hätte, um diese impulsive Reaktion nicht hinterher in der Gruppe thematisieren zu müssen, konnte ich das was ganz präsent war nicht einfach ausklammern. Es musste in den Roten Rahmen. Gleichzeitig sind unbewusst noch ganz andere Bilder entstanden.
Heute bin ich aufgewacht und hatte plötzlich ein ganz anderes Gefühl zu dem was wir gestern gemacht haben. Ich glaube, vieles wurde aufgewühlt und hat sich anschließend neu sortiert. Fühlt sich jetzt wirklich an wie eine Therapie, die wir gemacht haben…und ich frage mich warum.
Gestern hatte ich nämlich echt oft die Frage: „Was machen wir da und was soll das bitte bringen?“ Ich hatte auch zwischendurch voll den Anti, hatte das Gefühl völlig Random Übungen zu machen. Heute hat sich (nach 1 Mal drüber schlafen) das ganze mehr zu einem Sinn zusammengefügt und nach irgendwie sowas wie ein Beginn von etwas. Denn in den ersten Übungen haben wir Kunst produziert und Wege gefunden, abstrakt darüber zu sprechen (kollektiv und individuell) und am Ende haben wir Bilder bzgl. Rote Rahmen produziert, aber noch nicht darüber gesprochen.
Außerdem haben wir uns kennengelernt…
Das Kennenlernen fing schon an mit dem 10 Sekunden in die Augen gucken. Das war auch bisschen unangenehm, aber auch angenehm. Die Menschen an sich waren angenehm, aber man kannte sich ja nicht und war sich dann so nah. Wann schaut man einem Menschen, den man kennenlernt schon 10-20 Sekunden in die Augen und gibt sich beide Hände?
Anschließend machte Nikša eine kurze Einleitung und ein pantomimisches Kennenlernen. Es war schon der 2. Moment, wo man sich aus der Komfortzone herausbewegt in eine nicht besonders angenehme aber gerade dadurch auch sehr verbindende Situation. Ich erinnere die Leute jetzt mit ihrer Gestik, nicht mit ihrem Namen. Schätze, den Namen erfährt man jetzt in Zwischengesprächen und beim miteinander Arbeiten…
Nach der Kennenlern-Pantomime haben wir Spiralen auf Blätter gezeichnet und anschließend Striche darauf gemacht (ich kannte diese Übung schon aber dieses Mal hat sich das Durchstreichen besonders befreiend angefühlt). Nikša hat erklärt, wie diese Bilder unsere rechte und linke Gehirnhälfte widerspiegeln (und dem entsprechen unsere eher emotionale/kreative bzw. rationale/organisatorische Seite). Es war interessant, aber was mir in einer späteren Übung, die ich anleiten sollte, schwer fiel ist das ganze anschließend als Kunst wahrzunehmen. Für mich waren es Random auf ein Blatt Papier gezeichnete Bleistiftlinien. Wieso sollte eine Komposition davon zu einem Ausstellungsstück werden? Am Ende zählt nur die Bedeutung, die es für uns hat, aber es fällt mir sehr schwer diesen Blick von außen auf uns abzustellen. Wiederum war es sehr schön zu bemerken, dass sich ein Teilnehmer sehr darüber gefreut hat und sich mit uns vor dem Bild fotografieren wollte
Wir haben uns am Ende für eine Komposition entschieden, die aussieht wie ein Mensch und dabei nicht bemerkt (oder zumindest ich nicht), dass die Anordnung der Blätter aus Papier die Form von einem Kreuz hat. Also ein großes Kreuz an der Wand…was natürlich sofort Assoziationen weckt…außerdem haben wir eins der Bilder vergessen.
Ich bin am Ende nicht sehr zufrieden damit, wie ich es angeleitet habe. Ich hätte Konsensfindung-Skills (wie Stimmungsbild) anwenden sollen, um zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen. Ich frage mich, ob wir die Komposition noch ändern können, so dass es nicht wie ein Kreuz an der Wand aussieht, wie in der Kirche…bestimmt…aber jetzt hängt es da erstmal…
Was wir noch gemacht haben sind kleine Emotionsbilder mit der Farbe von unserer individuellen Emotion des Tages. Sowohl über die Emotionsbilder, als auch über die Bleistiftzeichnungen haben wir Geschichten erzählt. Mit verschiedenen Methoden. Mit und ohne Titel. Alle zusammen, die zusammen eine Geschichte erzählen, oder einzelne Geschichten.
Das Persönliche wurde zum Abstrakten und trotzdem hat mich das, was z.B. abstrakt über mein Bild gesagt wurde, berührt. Zum Beispiel meinte jemand, dass es aussieht wie die Nacht mit Lebewesen im Hintergrund oder wie ein Ozean auf einem anderen Planeten. Beides hat trotz der dunklen Farbe (aufgrund meiner schlechten, müden, energielosen Stimmung) etwas tiefgründiges.
… Ich konnte noch nicht so komplett hinter dem was passiert dahinterstehen und kann aber noch nicht so richtig begreifen warum. Vielleicht ist es eine Frage von Kontrolle abgeben.
Die letzte Übung war der Rote Rahmen. Über einige Bilder habe ich im Nachhinein noch nachgedacht. Z.B. das Wasser mit Meereslebewesen, das über den Roten Rahmen hinausgeht. Eine Überschreitung des Rahmens, wie die Überschwemmung nach der Sprengung des Khakhovka Staudammes.
Der Abschluss mit dem Roten Rahmen, aber diesmal ohne Gespräch über die Bilder, war wie ein Cliff-Hänger am Ende einer Serie. Es bleibt spannend wie es weitergeht.
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03.07.2023
Wir haben uns entschieden, für die Strecke Wohnung – Arbeit – Wohnung ab sofort immer ein Taxi zu benutzen. Die Entfernung beträgt 3,1 km und ist sehr schnell zu überwinden. Die Fahrt kostet 80 Üklon, also 2 Euro! Es sind Ausgaben, die wir nun also in die Planung unserer Aufenthaltskosten mit aufnehmen.
Unser Fahrer wurde in Kiew geboren, seine Eltern und Großeltern stammen aus einem nahegelegenen Dorf. Deren Vorfahren stammen von woanders her, sind aber, wie er betont, ukrainischer Herkunft. Wir sprechen das Thema Bildung an. Er sagt, er habe nur deshalb die russische Grundschule besucht, weil sie zwei Jahre kürzer dauert als die ukrainische. Er spricht seit seiner Geburt Ukrainisch und seine Großeltern, sagt er, brachten ihm Lesen und Schreiben auf ukrainisch bei.
– Moment, sage ich, als er es näher zu erläutern versucht. Was? – Warte, (sage ich zu R.) ich verstehe nichts. Erkläre es mir bitte!
- übersetzt es für mich:
Zuvor, zu Sowjetzeiten, konnte man hier nur russische Schulen besuchen, andere gab es nicht. Auch in der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz wurde nur russisch gesprochen. Wer damals als Kind ukrainisch konnte, hat es zu Hause von der Familie gelernt. Oh! denke ich. Oh!
(Sofort fällt mir der Vergleich mit den Kurden ein. Auch in der Türkei ist der öffentliche Gebrauch der kurdischen Sprache verboten, und selbst heute noch prahlen die dortigen Machthaber mit ihren absurden Verboten, etwa beim NATO-Beitritt Schwedens. Sie verbieten alle politischen Aktivitäten der Kurden, natürlich mit der Begründung, dass es sich dabei um kurdischen Terrorismus handele. — Puh!)
Seit die Ukraine ein eigener Staat geworden ist (übersetzt R.), gibt es nun russische und ukrainische Schulen, aber wenn Kinder auf eine ukrainische Schule gehen, dauert das zwei Jahre länger als wenn man eine russische Schule besuchen würde. – „Das wollte ich eben nicht“, sagt der Taxifahrer. — Klar, denke ich. Wie viele Kinder wollen schon länger zur Schule gehen als nötig?
Später habe ich nachgeschaut: Der Hauptorganisator des hiesigen Projekts hat eine ukrainische Schule besucht. Wie nebenbei, scheinbar naiv, frage ich jetzt alle Mitwirkenden nach ihrer Ausbildung…
Uff. Wenn wir diese neuen Informationen positiv formulieren wollten, könnten wir sagen: So ist eben das Schulsystem. Daran liegt es.
Wenn wir es aber negativ darstellen wollen, werden wir sagen: Es ist Manipulation. Und ja, echt!
Und ich erinnere mich an die Schulen in Vukovar, getrennt für Kroaten und Serben.
Nun lernen diese neuen Generationen in der Republik Kroatien kein Kyrillisch mehr, weil es „wie Serbisch“ sei. Diese Behauptung ist haltlos und zahnlos, zudem nationalistisch, rechtsradikal… und die Kinder wissen immer weniger und glauben immer mehr. – Uff!
Ich erinnere mich auch an den Schock, als wir unsere Tochter zum ersten Schultag nach Zadar brachten und der Priester im Raum etwas sagte, das einfach nicht in Schulen gehört, die einfach frei von Gehirnwäsche sein müssen! Nicht alle Menschen gehören derselben Religion an!
Unser Kind hatte Angst (ich auch! und ich bin mir sicher, die Angst war berechtigt. Heute knien und beten dort die Männer in aller Öffentlichkeit. Mir wird schlecht!).
An der kroatischen Universität, an der ich unterrichte, fragte ich gleich zu Anfang, nachdem ich gerade einen „Segen zum neuen Studienjahr“ miterlebt hatte, leicht verwirrt: Ist das eine katholische Universität? — Puh!
Genau daher sorge ich mich auch um die Ukraine. Ich würde mir wirklich wünschen, dass ihr Sieg auf militärischem Gebiet, den ich absolut erhoffe, im Alltag dann, im Anschluss, beim Neuaufbau, nicht zu einer ebensolchen Niederlage wird! Puh!
Ich lebe hier in einem Vakuum – so fühle ich mich wirklich; Wirbel, Strudel, Wasserfall, die Explosion des Beobachteten, des Assoziierten, von allem Erlebten…
Alles mit mir in der einzigen Welt, die mir gehört…
Dieses ist ein Erfahrungstagebuch… innere Bilder…. Manche zum Beiseitelegen, manche zum Behalten; manche, um abzuschließen, neue zum Beginnen.
Die Technik, die ich mir ausgedacht habe, stärkt mich immerhin sehr: „im Roten Rahmen“. Ich verstehe immer besser, wie das gehen kann. Ich trage zu dieser wichtigen Arbeit hier bei, und die Effizienz beruhigt mich. Nach diesem Arbeitstag sage ich den Leuten:
„Wir sind nun sehr in die Tiefe gegangen, lasst uns so weitermachen, lasst uns beharrlich, neugierig in das Verborgene und/oder das noch Unbekannte unseres Eigenen blicken.“
Reginas Tagebuch (Tag 2, Montag)
Gestern hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass tatsächlich eine Gruppe entsteht, ein Gruppenprozess in Gang kommt…eigentlich sogar, dass sich schon eine Gruppe formiert hat. Zumindest drei Teilnehmer*innen scheinen konstant dabei sein zu wollen.
Alle Teilnehmer*innen sind auf ihre Art für den Prozess wichtig. Auch die, die nur für einen Tag dazu kommen. Dabei ist es wichtig, alle festzuhalten.
Alle von uns haben eigene innere Bilder. Die Buntheit und Verschiedenheit der inneren Bilder ist gestern nochmal deutlich geworden. Der Rote Rahmen erscheint mir wie ein Schlüsselloch mit dem wir in unser Inneres und in das Innere der Anderen gucken können. Die Pastellfarben auf den Bleistiftschattierungen haben das Schlüsselloch mit Licht versorgt, so dass noch mehr zu sehen war.
Nach der Sitzung wollte ich einige der anderen Teilnehmer*innen umarmen aber die Hürde war noch zu groß. Trotzdem haben wir uns geöffnet. Ein Teilnehmer ist am Ende der Sitzung noch zu mir gekommen und hat Fotos gezeigt, die er am Tag davor mit Nikša und mir gemacht hat. Dann hat er gesagt, wie wichtig es ist so durch die Welt zu gehen wie der Professor es gezeigt hat: Mit einem offenen Herz, mit offenen Armen und Offenen Handflächen. Er sprach viel darüber. dass der Struggle im Leben (dabei hat er sich viel auf das Thema Geld und genug Geld haben bezogen) einen oft nach innen kehrt und verschließt.
Wir haben gestern viel über die Bilder, die wir im Roten Rahmen gemacht haben gesprochen und ihnen Titel gegeben, bzw. unsere Assoziationen mitgeteilt. Wenn andere Leute sich fragen, was sie sehen, fragt man sich auch mehr was man selber sieht. Vielleicht sagt das, was andere Leute in dem eigenen Bild sehen, mehr über sie aus, als über einen selbst. Aber ich kann mich dann auch durch die Augen der anderen sehen und sehe dadurch wiederum ein Stück mehr von mir. Wir spiegeln uns, wobei die Spiegel einen wie beim Jahrmarkt verzerrt erscheinen lassen, aber sie zeigen trotzdem etwas. Und es lässt einen mehr darüber nachdenken, was dahintersteht.
Wenn sich andere Teilnehmer*innen nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den 1. beiden Bildern fragen, fragt man sich auch selbst direkt mehr danach. Mir ist aufgefallen, dass bei mir total unbewusst in beiden Bildern ein oder mehrere Flüsse entstanden sind. Einmal gegen den Strom und einmal zwischen den Strömen…
Ich hatte 1000 mal mehr Energie als gestern, ich war nicht mehr so unendlich schlapp und müde. Auch war ich mir meiner Rolle bewusster. Ich glaube es ist gut, wenn Alona und ich uns beim Übersetzen mehr aufeinander beziehen und aufmerksam füreinander sind. Das werde ich heute mehr versuchen, so dass ein besseres Teamwork entsteht.
Ab und zu habe ich mit dem Malen des Roten Rahmens und mit Verteilen von Material assistiert und ich habe wieder die Anleitung einer Aufgabe übernommen. Da es keine künstlerische Aufgabe war, konnte sie auch nicht so einfach interessant gestaltet werden. Die Teilnehmer*innen sollten einfach wiederholen, was wir an dem Tag gemacht haben. Ich hatte das Gefühl, dass sich mit meiner Moderation schlagartig die Atmosphäre verändert hat und das hat mich verunsichert. Der Sinn war eigentlich, sich gemeinsam der Bedeutung des Tages bewusst zu werden und ich war mir der Bedeutung des Tages selbst noch nicht bewusst. Also für solche Übungen macht es Sinn, sich vorher bewusst zu werden, damit man die Antworten ergänzen und weiter füllen kann und damit der Moderationsflow nicht abbricht, nachdem alle ihre Antworten gegeben haben.
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04.07.23
Gültig, so heißt es, bis vorerst 16.07.: Warnung vor möglichen Angriffen auf das Kernkraftwerk.
Überdies die desaströse Prognose, dass schon morgen der D-Day sein könnte. Wir schweben also in großer Gefahr.
Ich habe letzte Nacht keinen Alarm gehört. Entweder gab es keinen, oder die Müdigkeit ließ mich einfach weiterschlafen. Woher kommt meine Müdigkeit? Ich fühle mich wie ein Schwamm, nur fehlen mir noch immer zu viele Einzelheiten. Details, wie sie bei der Arbeit sichtbar werden. Ich konzentriere mich wirklich darauf, dass mir nichts Wichtiges entgeht, damit ich angemessen auf alles reagieren kann.
Die Wunden sind aufgeblüht, jetzt beschäftigen wir uns mit ihnen und versuchen, sie zu reinigen.
Und wir weinen in der Gruppe. Ich versuche durch Überraschendes, also mit Aufgaben, auf welche die Teilnehmer überhaupt nicht gefasst sind, vom Weinen zum Lachen überzuleiten. – Es bewegt sich, aber es braucht Zeit: wie schwere, düstere Wolken, die langsam über den Himmel rollen und allmählich an Dichte verlieren.
Kreation ist mächtig – Art Against Pain!
Ich möchte, dass alle lauter werden, lauter sprechen können. Ich führe Atem-, Stimm- und Sprechübungen ein, sorgfältig abgestimmt.
Ich agiere bewusst manchmal sehr expressiv, schrill, mit großen Bewegungen, überrasche mit meiner Lautstärke, ermutige mit „Stichen“: Lass uns gehen, lass uns gehen, du kannst, du kannst …
Ich fühle mich im Einklang mit meiner Intuition; das macht mich in meinen Reaktionen etwas sicherer, wenn in einem der Werke plötzlich ein paar ganz unvorhergesehene Details auftauchen. Dann denke ich intensiv darüber nach: Entsprechen nicht viele dieser völlig unerwarteten, unpassend scheinenden Einzelheiten eher einem Impuls des Selbstschutzes und der Selbstverteidigung, wie er in diesem Moment der Zerstörung ausgelöst wird und natürlich bei allen am Werk ist? Wie kann ein Mensch überhaupt mit alledem zurechtkommen, sich selbst bewahren und überleben?
Das fast körperliche Gefühl, dass ich etwas äußerst Notwendiges tue.
Allein in den ersten drei Tagen meiner Arbeit erlebte ich siebzehn verschiedene Menschen, aber nur vier von ihnen waren täglich anwesend und blieben auch den ganzen Tag, ein weiterer kam täglich für zwei Stunden. Sie kommen und gehen dann zur Arbeit; andere müssen nicht den ganzen Tag arbeiten, also kommen sie vielleicht zurück oder kündigen ihre Rückkehr an, — und in diesem Rhythmus geht es weiter.
Das ist eine ziemliche Herausforderung, und so suche ich nach Lösungen, wie ich die Wirksamkeit meiner Arbeit mit diesen Menschen dennoch aufrechterhalten und den ersten Teil dieses „Work in Progress“ auch weiterhin vernünftig umsetzen kann…
Sie war mit ihrem Sohn, einem Studienanfänger, nach Polen geflohen, ihr Mann ist im Einsatz – wie alle hier. Der Junge schaffte es in Polen nicht, also kehrten sie nach etwas mehr als einem halben Jahr zurück, jetzt nach Kiew, wo sie in ein Haus am Stadtrand zogen, zusammen mit 25 Geflüchteten aus einer zerstörten Stadt, allesamt auf der Suche nach einer neuen Bleibe.
Auf ihrem Weg nahm sie bereits an diversen Kursen und Workshops teil, „damit die reiche Welt der Vorstellungskraft das Gleichgewicht der Hand wiederherstellt“: so beschrieb sie auch den Grund, warum sie zu mir kam.
Ein „Open Atelier“ der Wunde oder: „das Atelier der offenen Wunde“ — jetzt fällt mir ein, wie es heißen könnte.
Und das ist Art Against Pain.
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Trinken Sie hier kein Leitungswasser!
Es sei verschmutzt, heißt es. – Seien Sie vorsichtig!
In unserer Wohnung ist das Wasser der Toilettenspülung graubraun. Das angegriffene Kiew war tagelang ohne Strom und Wasser.
Ich denke: Geflüchtete aus den Konflikten in der arabischen Welt sind zumeist Männer oder ganze Familien; Geflüchtete aus der Ukraine sind überwiegend Frauen und Kinder.
Unterschiedliche Kulturen? Die übliche Rollenverteilung zwischen Mann und Frau?
Reginas Tagebuch (Tag 3, Dienstag)
Als ich gerade geschrieben habe, dass es erst der 3. Tag war, hat mich das richtig gewundert, da es sich überhaupt nicht wie nur 3 Tage anfühlt, sondern mindestens wie 5 Tage. Das zeigt wahrscheinlich, dass es intensiv war.
Bisher gab es jeden Tag ziemlich viel Fluktuation. Aber es waren stabil mindestens 3 Leute permanent da und insgesamt sind es eigentlich 4 Leute die relativ stabil die ganze Zeit während der 2 Wochen dabei sind. Gestern waren von den 4 Leuten anfangs nur 2 und später dann 3 da. Es kamen noch 3 neue Leute dazu. Die Gruppensituation war also 50:50 neue Leute und Leute die die Tage davor schon da waren. Das stellte eine Herausforderung dar. Die Tage davor gab es auch immer jeweils eine Person die nur einen Tag da war und danach nicht mehr. Wir haben schon vor dem Projektbeginn gesagt, dass wir mit Fluktuation rechnen müssen aber dass es trotzdem eine stabile Kerngruppe braucht. Ich denke an sich ist das der Fall. Wir haben auch gesagt, dass das Projekt sich vorzustellen ist wie ein Friseursalon, in dem zwischen 14 und 20 Uhr etwas passiert. Das heißt, dass Leute zu den Öffnungszeiten kommen und gehen. Damit es eine feste Gruppe von Anfang bis Ende bleibt hätten wir es auch so ankündigen müssen. Das hätte aber wiederum viele Menschen ausgeschlossen, da die meisten Menschen sich nicht 2 Wochen Zeit nehmen würden oder können. Ich denke, es ist eine gute Zwischenlösung, die aber uns und vor allem Nikša vor Herausforderungen stellt. Ich merke selber wie es einfacher ist sich zu öffnen, wenn man schon einen Gruppenprozess miteinander gestartet hat. Wie kann man in solchen Momenten alle mitnehmen und den Gruppenprozess weiterführen. Ich denke, vielleicht wäre eine Möglichkeit verschiedene Sessions zu machen. Eine mit der Kerngruppe und eine mit allen zusammen, z.B. jeweils 2 Stunden…oder Tage festzulegen, an denen man mit der Kerngruppe noch mehr in die Tiefe geht.
Ich denke das Wochenende wird interessant und intensiv. Zum einen, weil es die Idee gibt morgen einen Tag frei zu haben und dann dafür am Wochenende mit der Kerngruppe intensiver zu arbeiten. Zum Anderen, weil die Frau von Oleksander wahrscheinlich wieder dazu kommt und sich noch eine weitere Person angemeldet hat für das Wochenende. Ich denke, dass die Chance besteht verschiedene Fäden wieder zusammenzuführen, die im Laufe der letzten Tage mit der Fluktuation entstanden sind. Dafür wäre es glaube ich gut nochmal alle zu versuchen zu erreichen, die bisher (wenn auch nur für einen Tag) dabei waren und noch weitere A3-Blöcke zu besorgen.
Aber das sind jetzt erstmal Zukunftsgedanken, jetzt nochmal zum gestrigen Tag…
Bei den ersten Übungen mit der Holzente hatte ich das Gefühl, dass ein Ventil geöffnet wurde. Endlich konnte man mal Geräusche rauslassen und laut sein. Gerade bei einer Teilnehmerin hatte ich das Gefühl, dass sie es richtig genossen hat endlich mal schreien zu dürfen. Ich habe Gänsehaut bekommen, als das Geräusch was die jüngste Teilnehmerin gewählt hat ein Sirenengeräusch war und als sie die Holzente „Oyu lusi chervona Kalina“ singen lassen hat.
Es hat Spaß gemacht miteinander Quatsch zu machen.
Der rote Faden des Tages war, denke ich, sich nochmal auf verschiedenen Ebenen zu öffnen. Zum einen mit der Übung bei der man die Hände zur Faust macht und dann wieder öffnet. Zum Anderen durch das Einsetzen verschiedener Resonanzfelder beim Sprechen und Hürden mit der Lautstärke der eigenen Sprache abbauen. Außerdem haben wir uns auch die eigene Zensur von Wörtern bewusst gemacht. Welche Wörter sprechen wir alle nicht aus?
Alle schreiben hintereinander alle Wörter, die ihnen einfallen auf ein Blatt Papier. Einige hatten 30, einige hatten 20, einige hatten 6. Anschließend übertragen wir die Wörter ohne den Stift abzusetzen, direkt hintereinander auf ein großes Blatt Papier. Dann haben wir Übungen gemacht, um sich bewusst zu werden, wie wir selbst die eigenen Wörter zensieren, indem jede*r eine Minute lang versucht alle Wörter die einem in den Sinn kommen auszusprechen.
Ich denke, es ist klar, dass wir nicht alles sagen, was uns in den Sinn kommt und abwägen, was wir sagen oder was gesagt werden soll. Nicht alles was uns in den Sinn kommt, sollte ausgesprochen werden. Welche unausgesprochenen Wörter sollten aber ausgesprochen werden? Welche unausgesprochenen Wörter auszusprechen wirkt heilend auf uns?
Was die Teilnehmenden dazu gesagt haben, war interessant. Einige haben gesagt, dass sie den Eindruck haben, dass vieles gerade nicht ausgesprochen wird und dass Leute sich mit der Kriegssituation nach innen kehren. Gleichzeitig habe ich mich gefragt, ob das eine Affirmation der Übung war, die genau das ist was ein Lehrer hören will.
Ich habe darüber nachgedacht, dass einige soziale Werte, die es gibt, die das Aussprechen bestimmter Dinge nicht erlauben, auch wichtig sind. Manchmal ist es besser noch mehr über Dinge nachzudenken bevor man es ausspricht. Aber was wirklich ausgesprochen werden soll und was nicht, können wir besser wahrnehmen, wenn wir den Fluss zwischen Gedanken und Gesagtem besser wahrnehmen lernen, durch z.B. solche Übungen.
Wir haben auch noch 2 weitere Bilder von dem ersten roten Rahmen analysiert und ihnen Titel gegeben. Eins davon war meins und das andere war Yashas. Es war mir wirklich sehr unangenehm, weil mein erster roter Rahmen in erster Linie impulsive Reaktionen von mir widerspiegelt und außerdem auch sehr konkret ist, da ich nicht nur gemalt, sondern auch geschrieben habe. Ich selbst wollte auch nicht so viel konkretes dazu sagen in der Runde…
Ich denke alle Titel die die Leute meinem Bild gegeben haben waren sehr treffend (Warnung, Grenze, Abgrenzung, Distanz, Quatsch, …). Ich denke es stimmt, dass es einen Weg widerspiegelt, der keinen Sinn macht, der Fluss nirgendwo hinführt und der Weg nirgendwo hinführt, auch wenn ich beim Malen etwas völlig anderes damit assoziiert habe. Mein heutiger Traum handelte im Prinzip auch davon, wie verloren in einem großen Labyrinth zu sein und herumzuirren. Ich will darin meinen eigenen Weg finden. Die Stop-Schilder sind aber nicht nur etwas schlechtes. Sie sind der Moment in dem ich mir über die eigenen Grenzen und über das, was ich will bewusst werde. Die Frage ist, wo geht es stattdessen hin.
Warnung, Abwehr, Distanz…
Ich frage mich ob nur ich Abwehrmechanismen oder hinterfragende Gedanken habe oder ob es auch anderen so geht, aber es nicht geäußert wird. Denn es ist schwer ist in so einem Rahmen Abwehr oder Kritik zu äußern, und wir haben in der Schule gelernt immer das zu sagen, was der Lehrer hören will. Ich merke, wie ich dadurch automatisch in die Rolle komme, hinterfragende oder zweifelnde Dinge auszusprechen, damit auch andere es tun und eine Offenheit diesbezüglich entsteht (wie in der Reflexionsrunde vor 2 Tagen). Als Teil der Projektinitiative will ich aber auch die Moral hochhalten und die Bedeutung dessen was wir tun. Wie kann man einen guten Rahmen für Zweifel oder Dissonanz schaffen ohne die Wichtigkeit und Bedeutung dessen, was wir tun zu verlieren?
Der zweite Teil der letzten Aufgabe war denke ich ein bisschen verwirrend, weil es sehr lange gedauert hat, bis alle die Aufgabe mit den Buchstaben im Roten Rahmen verstanden haben. Die in einer Linie Geschriebenen Wörter auf dem A3-Papier wurden mit einem roten Rahmen übermalt. Meistens wurden viele Wörter dadurch herausgefallen und sind nicht in dem roten Rahmen gelandet. Ein oder 2 Mal sogar gar kein Wort. Das was im Roten Rahmen geblieben ist, ist das Thema des Bildes im Roten Rahmen, welches wir weiter zeichnen/schreiben sollten. Da es große Verwirrung gab und dadurch die Energie geschwunden ist, haben wir das Beenden des Bildes auf den nächsten Tag verschoben.
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05.07.2023
Nachdem ich mir in allen Einzelheiten angehört habe, was mit der Ukraine zu Stalins Zeiten passierte (innerhalb der UdSSR übrigens war Cherson die Hauptstadt der Ukraine), fährt mir plötzlich die Frage heraus: Gibt es während ihrer Geschichte auch noch mal andere Versionen von diesen Ländern, bessere Versionen? Wenigstens in der jüngeren Geschichte? Gab es mal, sagen wir, wenigstens zwei bis drei Jahre, in denen keine Dissidenten aus politischen Gründen vergiftet, auf andere Weise getötet oder eingesperrt wurden, oder man sich selbst und andere abgeschlachtet hat?
Ein schwaches Lächeln huscht über die Lippen des Museumsführers: „Von 1924 bis 1926 konnte man etwas freier atmen…“. Damals war die Macht im Staat auf mehrere Leute verteilt. Auch von etwa 1956 bis 1961, was in die Ära Chruschtschow fällt, war es wohl nicht ganz so schlimm. Aber auch diese beiden Zeitabschnitte waren voller Zwischenfälle.
Erst mit dem Erscheinen Gorbatschows wurde es den Menschen wieder möglich, ihr Leben in Würde zu leben; doch auch das hielt nur für relativ kurze Zeit.
„Ah, und was macht dieser Kriegsverbrecher, der jetzt in Russland an der Macht ist? Der findet nicht einmal die Zeit, bei der Beerdigung zu erscheinen und diesen Mann zu würdigen!“
Ich bin erstaunt, wie mein „Open Wound Studio“, wie ich es seit gestern nenne, tatsächlich Energie regeneriert, – saubere Energie sozusagen.
Wir arbeiten fast sechs Stunden am Tag und ich habe am Ende des Tages immer das Gefühl, wir hätten noch weitermachen können. Die wichtigen Details kommen jetzt ans Licht. Ab jetzt geht es darum, uns immer mehr auf die gesamte Serie zu konzentrieren.
Der einzelne Rote Rahmen ist die Vergrößerung von Details, doch auch er erscheint innerhalb eines größeren Ganzen, das noch unvollendet bleibt, noch nicht zur Gänze erkennbar wird.
Die Gesamtheit der Risse und Brüche, und die Risse und Brüche als Ganzes.
Ich investiere mich wirklich voll und ganz in diese Arbeit, und wenn ich nachts im Bett liege, habe ich das Gefühl, dass sich die Erlebnisse des Tages in meinem Körper „bewegen“. Und ich werde von dieser steten Bewegung allmählich in den Schlaf gewiegt. In Schlaf versetzt wie vom steten Raunen eines Topfes voll kochender Flüssigkeit auf einem Feuer.
Wie beschreibe ich diesen „Topf“, den ich plötzlich deutlich vor mir sehe?
Es ist ein riesiger schwarzer Kessel, der an einer Eisenkette über einem Holzfeuer hängt. Einem Feuer, welches das Holz langsam zersetzt, den Topf fast überhitzt und die Flüssigkeit zum Brodeln bringt.
Dass mir dieser Kessel jetzt erscheint! Es ist eine Erinnerung aus meiner Kindheit. Etwas, das ich in meiner Kindheit erlebt habe, als ich den Sommer mit meinen Verwandten im Dorf Nakal auf der Insel Brač verbrachte. Es gab keinen Strom, und Wasser nur aus einem Brunnen.
Regenwasser.
Ich meinte vorhin „Flüssigkeit“, weil ich gerade nicht zu sagen wüsste, ob es sich dabei um Wasser oder Blut handelt.
Ob es wohl doch Regenwasser ist?
Womöglich ist ja, was meinen Geist und mein Herz so zu befreien scheint, auch nur ein Wettlauf von Neuronen. –
Meine gereizten Nerven. –
Ich habe heute Nacht geweint.
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Sie malt, und Tränen fließen. Das Bild wird nass. Von Tränen oder Regen. Sie sagt: „Ich kann mir nicht helfen.“
Ich fahre ihr mit meiner Hand über den Rücken, mit dieser Handfläche, in die ich zuvor ganz viel von meiner Energie hineingebe. Ich stelle mir vor, dass ich meine Hand mit Energie „durchtränke“.
Die vielen jetzt aufscheinenden Details setzen tatsächlich ganz unerwartete Energien in mir frei.
Ich frage mich: Bin ich noch ganz normal?
Die Antwort interessiert mich eigentlich nicht. —
Ich bin!
Und diese Frau sucht nach allen möglichen Rechtfertigungen, um zu erklären, dass sie morgen nicht kommen wird, aber am Wochenende ganz sicher wieder dabei ist.
Sie kommt mir vor wie eine kleine Papiertüte, die durch getrocknete Tränen ganz steif geworden ist. Jemand hat an die Front müssen, eine ihr wichtige Person, ich glaube, es ist ihr Sohn.
Wenn er am Wochenende zurückkommt, werden wir weiterarbeiten. An diesen dann getrockneten Bildern, die mit Tränen gemalt wurden.
Ich bin verwirrt, bestürzt über die Nähe dieser Menschen.
Sie in mir und ich in ihnen.
Wir brauchen uns.
Reginas Tagebuch (Tag 4, Mittwoch)
Als wir ankamen tröpfelten erst nach und nach die Leute rein, so dass Niksa mit individuellen Sessions anfing. Es sollten also alle nacheinander reinkommen, die separat an etwas arbeiteten und nicht als Gruppenaufgabe. Jede*r hat da weitergemacht, wo er*sie aufgehört hat.
Es kamen 2 neue Frauen dazu. Eine der Frauen war am Tag davor schon da mit einem Mann. Sie wollten eigentlich nur mal kurz im Museum vorbeischauen, aber es hatte geschlossen. Also wurden sie auf uns aufmerksam. Die Frau versuchte noch ihren Begleiter zu überreden an unserem Projekt teilzunehmen, aber er wollte nicht. Jetzt war sie wieder da mit einer Freundin zusammen und wollte teilnehmen. Sie und ihre Freundin fingen an mit Strichbildern. Anschließend wurde auf den Strichbildern ein roter Rahmen gemalt und sie hatten die Aufgabe das Bild weiter zu ergänzen – mit Bleistift und Pastellfarben. Alle anderen Teilnehmer*innen, einschließlich mir, malten an dem Bild vom Tag davor weiter – das Bild mit der Wortlinie.
Von meiner Wortlinie ist durch den roten Rahmen nicht ehr viel übrig geblieben. Das Wort Gelb auf ukrainisch und das Wort Flagge auf russisch. Gelb und Flagge…was soll da schon rein: Gelb klingt wie Geld. Gelb ist wie der Weizen. Die Wörter kamen zu Stande, weil ich an die ukrainische Flagge gedacht habe. Geld…Existenzängste…Weizen…Golodomor…einige Bilder sind mir noch von der Museumstour die Niksa und ich kurz vorher noch bekommen haben im Kopf geblieben. Y. Erzählte uns von ersten Jahren der Ukraine als Sowjetrepublik und schließlich auch vom Golodomor und der Ukraine unter Stalin.
Flagge. Flagge und gelb? Was macht das gelb in der Flagge aus? Der Farbton in der ukrainischen Flagge, den es in der russischen nicht gibt…
Ich schaue hinter mich. Eine der Frauen, die neu dazu gekommen ist, weint. Das Malen im Roten Rahmen schien etwas in ihr auszulösen. Sie malte eine große gelbe Blume und eine Landschaft.
Die Technik, die den Roten Rahmen mit Schreiben verbindet passt gut zu dem Comic-Stil, in dem ich gerne zeichne. Ich bin mit dem Bild aber nicht in der vorgegebenen Zeit fertig geworden.
Als wir anschließend als Gruppe zusammenkamen, gaben wir alle Bilder einmal rum. Es lagen starke Emotionen im Raum. Ich fühle so etwas sofort und sauge es wie ein Schwamm auf. Mir war mal wieder nach Weinen zu Mute…
Wir machten eine Runde und mit Hilfe einer Stoppuhr hatten alle eine Minute Zeit, um einfach irgendwas zu sagen.
Eine der Teilnehmerinnen hat einfach eine Minute lang erzählt, dass sie überlegt bald in die Karpaten zu fahren und was sie an den Karpaten schön findet. Ich habe angefangen zu weinen und habe erzählt, dass ich generell schnell weine. Dann habe ich noch etwas über mein Bild gesagt. Die meisten haben etwas über ihren Prozess bei dem Projekt erzählt.
Nachdem wir wieder einem oder zwei Bildern Namen gegeben haben, kam wieder die Holzente zum Einsatz. Sie zeigte uns einen Haufen von Clownsnasen und sagte, wir sollten uns eine aussuchen und sie anziehen. Nikša gab einen Spiegel rum. Wir clownten rum, alberten rum und lockerten uns auf. Mit dieser Lockerheit konnten wir weitere Bildertitel vergeben.
Kinderspielzeug wurde auf dem Boden verteilt, genauer gesagt… Wirbel. Diese Spielzeuge sind so eine starke Kindheitserinnerung, dass ich das Wort dafür nur auf russisch weiß (Julá)…heißt es überhaupt „Wirbel“ auf deutsch? Jedenfalls diese Dinger, die man drehen kann und die sich dann von alleine weiterdrehen. Einige Julás wirbelten herum und drehten sich anschließend auf ihrem Drehaufsatz weiter: „Alle können wieder auf die Beine kommen, wenn man es nur versucht.“
Am Ende machten wir wieder eine Reflexion. Es sieht so aus, dass wir eine permanente Teilnehmerin dazu gewonnen haben. Die Frau, die heute mit ihrer Freundin wiedergekommen ist wohnt in der Nachbarschaft und kennt hier in der Gegend viele Leute. Sie will von nun an jeden Tag kommen und noch Freundinnen mitbringen.
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06.07.2023
Lavov liegt keinesfalls in der besetzten Zone, sondern tief im Westen und fast an der Grenze zu Polen. Geflüchtete aus den Kriegsgebieten ließen sich dort nieder, weil sie dachten, die Stadt sei sicher. Der Aggressor hat letzte Nacht Raketen auf Lavov abgefeuert, es gibt Tote und Verwundete. Die Armee der Kriegsverbrecher greift weiterhin an.
Hier ertönt um halb zwei Uhr nachts der Alarm.
Wann der Krieg enden wird, frage ich jemanden in Kiew. – „In zehn Jahren?“ antwortet er unumwunden. Und setzt hinzu: „Vielleicht dauert es auch länger.“
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Ich habe den Arbeitsplan jetzt teilweise nach einem Fließband- oder „Rolltreppenprinzip“ organisiert: Ich rede kurz mit einer ersten Person, vereinbare mit ihr eine Aufgabe und überlasse sie dann sich selbst, während sie die Aufgabe umzusetzen beginnt; ist sie innerhalb von dreißig Minuten zu einem Ergebnis gekommen, führe ich die nächste Person in den Raum, wir reden, und ich gebe auch ihr eine Aufgabe, die sie, gemäß der Vereinbarung, in etwa dreißig Minuten alleine umsetzen soll; dann ist eine dritte Person an der Reihe, usw. –
Mittels solcher „Rolltreppen“ haben wir nun erreicht, dass jede:r einen Raum für sich alleine nutzen kann, sowie ausreichend Zeit und Ruhe für jede:n geschaffen, sich mit den eigenen Themen zu beschäftigen. Ich bleibe in Reichweite, bei Bedarf kann man auf mich zugreifen. Unterbricht jemand seine Arbeit, weil er oder sie nicht mehr klarzukommen meint, kann ich Mut zusprechen.
Ich habe zudem den Arbeitstag in vier Abschnitte eingeteilt:
- a) Individuelles Arbeiten nach dem Prinzip der „Rolltreppen“, wobei alle zu je unterschiedlichen Zeiten beginnen und auch den Raum wieder einzeln verlassen;
- b) Entspannungsübungen für den Körper, die Stimme, – und um die Last der Gedanken erträglicher werden zu lassen;
- c) Alle Gruppenmitglieder widmen ihre volle Aufmerksamkeit der Arbeit je einer einzelnen Person: dieses zuerst kommentarlos, 20 Sekunden lang, den Blick auf den Roten Rahmen gerichtet; dann, während einer zweiten Runde intensiven Betrachtens, soll jedes Gruppenmitglied fünf Sätze sagen zu dem, was es in dem roten Kasten sieht; d) In der dritten Betrachtungsrunde lassen sich alle Beteiligten für das Gesehene je einen eigenen Titel einfallen, wobei stets jemand dafür verantwortlich ist, aus diesen Vorschlägen einen definitiven Titel auszuwählen. Diesen Titel werden wir fortan mit dem Bild assoziieren.
Des weiteren habe ich unser Instrumentarium erweitert. Ab sofort beschäftigen wir uns zum Beispiel auch mit der Handschrift – und damit, einzelne, auch kurze Wörter binnen einer vollen Minute aufs Papier zu schreiben, also alle sollen sich Zeit lassen und darauf achten, was das Wort mit ihrer Schrift, mit ihrer Hand macht, oder eben die Hand mit dem Wort. Ich habe auch einen Kreisel ins Spiel geworfen, sogar eine ganze Sammlung unterschiedlicher Kreisel.
Wir schauen zu, wie jeder Kreisel eben nicht nur diese eine Wahl hat, sich ständig auf dem Kopf zu drehen, er vielmehr auch mitten in dieser Drehung vom Kopf auf die Füße zu kommen vermag! Eine treffende Metapher für den Zustand, den jeder Einzelne hier in diesem Moment durchlebt und erfährt. Ich habe auch, sehr behutsam und vorsichtig, mit einer Lach-Meditation begonnen.
Oh, und es ist toll: Wie tief sind wir doch bereits in den Schatz der inneren Bilder jedes Einzelnen eingetaucht! Unglaublich, wie die Starrheit und Lähmung, die anfangs noch in den Bildern des Roten Rahmens zum Ausdruck kam, nun bei allen Teilnehmenden weg bricht! Was für ein wunderbarer Prozess, getragen von gegenseitigem Respekt und Vertrauen, von Mitgefühl, von Teilnahme und Teilhabe an dem, was dem Anderen keinen Frieden gibt, was ihn quält.
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Ihr Sohn ist vor drei Monaten verschwunden. An der Front verlor sich seine Spur, niemand weiß etwas von ihm, und ihr wurde weder mitgeteilt, ob er in Gefangenschaft geriet, noch bestätigt, dass er getötet wurde. Die Information lautet: Er ist verschwunden.
Egal, was wir bisher gemacht haben, ihre Tränen folgen stets den Bewegungen ihrer Hand. Und wenn sie auch über einige unserer Albernheiten lacht, weint sie doch gleichzeitig. Der Sohn in ihrem Herzen kann sich noch nicht laut ausdrücken, aber wir haben angefangen, daran zu arbeiten, – die Lähmung zu besiegen.
Am Ende der heutigen Zusammenkunft überreicht uns A. Geschenke. Aufmerksamkeiten für Regina und mich. Er holt nacheinander aus beiden Tüten die Geschenke einzeln hervor: getrocknete Datteln, Naturhonig, Energy-Drink, Brot, Milch, Kuchen, zwei Bananen, vier Pfirsiche, und eine ukrainische Spezialität… „Was ist das?“, lächele ich ihn augenfunkelnd an.
„Das soll Ihnen Kraft schenken und meine Dankbarkeit ausdrücken für das, was Sie mit uns tun. Es bedeutet mir sehr viel, ich verhalte mich im Alltag wirklich schon anders.“
Ich lasse es nicht zu, dass mich die Tränen in seiner Gegenwart überwältigen, ich umarme ihn nur mit feuchten Augen. Sobald er gegangen ist, schließe ich die Tür hinter ihm ab und weine. – Ich muss die Tränen herauslassen, um einen klaren Blick auf diese Menschen zu behalten.
Reginas Tagebuch (Tag 5, Donnerstag)
Am Abend kann ich nicht gut einschlafen. Ein Gewitter tobt direkt über uns. Ich muss über die Frauen nachdenken, die neu dazu gekommen sind und über die Ausstellung.
Die Nachrichten über das Atomkraftwerk in Zaporizha habe ich bisher eher von mir weggeschoben, aber mit dem Gewitter kommen die Gedanken und die Ängste hoch.
Ich beschließe am nächsten Tag A3-Mappen zu kaufen, damit die neuen Teilnehmerinnen auch ihre Kunstwerke irgendwo sammeln können…mir kommt die Idee die Bilder, welche die Teilnehmer*innen machen alle zu einem Heft zusammenzubinden.
Bei der 6. Session kriegen alle einzelne Aufgaben. Die Leute, die neu dazu gekommen sind und die, die schon länger dabei sind werden heute zusammengebracht. Wir arbeiten nicht im Stuhlkreis, sondern stellen die Tische zusammen, so dass wir wie in einer Werkstatt arbeiten können.
Die meisten schreiben erst einmal 20 Minuten lang. Alles was einem in den Sinn kommt, ohne Punkt und Komma, ohne auf die Grammatik zu achten.
Anschließend soll aus diesem Wörter-Meer das wichtigste markiert und auf ein neues Blatt geschrieben werden.
Einige schreiben Haiku-Gedicht.. In verschiedenen Phasen, soll das, was man aus dem Wörterozean herausgefischt hat immer weiter reduziert werden. Bis am ende ein 3-Zeiliges Gedicht entsteht, mit jeweils 5, 7 und 5 Silben
Diejenigen, die gestern bereits Haikus geschrieben haben, schreiben vier (?) Sätze aus ihrem Wörter-Meer heraus. Diese visualisieren sie in Form eines Menschen mit Wirbelsäule, Armen, Beinen und Bauchnabel innerhalb eines roten Rahmens. Das wird dann weiter ergänzt mit Pastellfarben.
Eine Teilnehmerin, die schon damit fertig geworden ist, macht anschließend kleine Bilder mit der Farbe des Tages. Darauf kommen auch später Sätze aus dem Wörter-Meer.
Ich male auch so ein kleines Bild. Während ich versuche die Farbe Beige aus weiß, blau, gelb und rot zu mischen geht vieles von dem Gruppengeschehen an mir vorbei. Nachdem ich das Bild fertig gemalt habe, versuche ich zwischendrin ein bisschen zu übersetzen.
Alle einzelnen Teilnehmer*innen mit ihren unterschiedlichen Aufgaben und ihrem verschiedenen Rhythmus zu verfolgen und die nächsten Anweisungen zu geben, ist keine einfache Koordinationsaufgabe. Ich habe auch mal Haikus aus einem Wörter-Meer bei einem Coaching mit Niksa herausgefischt, aber kann mich nicht mehr an die einzelnen Schritte erinnern.
Von den Frauen, die neu dazu gekommen sind, konnte die Frau mit dem Sohn nicht kommen. Ich erfahre, dass dieser beim ukrainischen Militär ist und verschwunden ist. Seit 3 Monaten gibt es kein Zeichen von ihm…
Viele Teilnehmer*innen bringen Geschenke. Nikša bekommt eine kleine selbstgestrickte Figur und eine Julá. Ein anderer Teilnehmer bringt uns beiden Schokolade und ein Eis. Es ist sehr viel Zuneigung und Dankbarkeit da.
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07.07.2023
Die Ukraine ist ein Land, in dem traditionell mehrere Völker zusammenleben, in dem Mischehen eher die Regel als die Ausnahme sind, und in dem Ukrainer und Russen durch Familie, Freundschaft und andere Bindungen verbunden sind. –
„Wie sieht die Mehrheit der Bevölkerung diesen Krieg, und gibt es auch abweichende Meinungen?“ frage ich Y. und eröffne damit das heutige Gespräch.
– „Natürlich ist dies ein 37-Millionen-Einwohner-Land“, beginnt er, „und so besteht natürlich immer die Möglichkeit, dass vereinzelt jemand eine andere Sicht auf die Dinge hat, die gerade passieren. Allerdings bin ich mir sehr sicher, dass neunundneunzig Prozent der Bevölkerung – was sage ich: mehr als 99%! – diesen Krieg als brutale Aggression, illegale Besatzung und einen nicht zu rechtfertigenden Gewaltakt Putins begreifen. Die Menschen in der Ukraine haben eigentlich gar keine ethnischen Konflikte – sie hatten sie zumindest bis jetzt nicht! In den derzeit besetzten Gebieten, hinter der Front, arrangieren sich natürlich einige mit der momentanen Realität: wohl, um einigermaßen unbehelligt zu überleben. Und die sagen dann im Zweifelsfall auch schon mal das, was die Besatzer eben hören wollen. Wenn ich also irgendwen dort sagen höre, dass er den Angriff als eine ‚Befreiung‘ gutheiße, bin ich, gelinde gesagt, doch mehr als skeptisch! – Und es gibt sie ja, diese Leute. Aber es gibt nur sehr, sehr wenige von ihnen.“
Ich erinnere mich sofort an diese Bilder, die in der ersten Woche nach dem Einmarsch durch die Medien gingen: Als die Menschen mit bloßen Händen auf die Straße gingen und Putins Soldaten Dinge zuriefen wie: „Geh nach Hause, Junge! Kehre zu deiner Familie zurück!“ … Und ein ukrainischer Junge pinkelte auf einen Panzer. Und zwei etwas ältere Kinder filmten die Trümmer in der halb zerstörten Wohnung ihrer Eltern und kommentierten ironisch: „Das haben unsere Befreier gemacht“…
-„Gleich zu Beginn des Krieges ist eine nicht unbeträchtliche Anzahl russischer Oppositioneller nach Kiew gezogen. Die leben jetzt hier und operieren von hier aus!“ behauptet mein Gesprächspartner.
Unter den Menschen, mit denen ich arbeite, gibt es wohl keine Bevölkerungsgruppe, die nicht vertreten wäre. Es ist eine in jeglicher Hinsicht durchmischte Gemeinschaft. Wie die Gesellschaft, in der sie leben.
Und der Schmerz ist individuell, und die Unterstützung ist gegenseitig.
In meine Arbeit fließen schon seit Tagen auch so manche Elemente aus meiner „Apotheke der Poesie“ mit ein. Ich verfolge, wie unter dem Eindruck neuer Erfahrungen, zwischen ungeordneten Gedanken und spontanen Reaktionen, jeder langsam zu dem vorstößt, was für ihn wichtig ist.
Sie akzeptieren bereitwillig die Hausaufgaben, die ich ihnen vorschlage, etwa: Am Morgen, gleich nach dem Aufwachen (und noch vor jeder anderen Beschäftigung), sich zwanzig Minuten Zeit zu nehmen, um handschriftlich niederzuschreiben, was jedem gerade durch den Kopf geht, ohne Rücksicht auf Rechtschreibung und Grammatik, auch ohne vorgegebenes Thema. Diese damit sehr spontanen Hervorbringungen werden wir dann auf den Treffen bearbeiten und sie zu jeweils drei Versen verdichten, im Haiku-Versmaß: 5-7-5….
Haiku! Es ist wirklich erstaunlich, wie effektiv die Beschäftigung mit dieser Versform die Achtsamkeit und jede konkrete Wahrnehmung stärkt – und wie beflügelnd das sein kann für bewusstes, konkretes Handeln.
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„Als Mitläufer werden Personen bezeichnet, die sich ohne eigene Überzeugung einer Gruppierung, Bewegung oder Strömung anschließen, ohne sich wirklich zu engagieren. Mit der Wortverwendung ist meist eine negative moralische Bewertung der so charakterisierten Person verbunden […und sie] betont […] den Gesichtspunkt, dass der Mitläufer alles passiv geschehen lässt oder einfach mitmacht,
ohne dabei für sein Verhalten Rechenschaft abzulegen oder Verantwortung zu
übernehmen.“ –
schreibt Wikipedia
-„Wie viele davon gibt es wohl derzeit in beiden Ländern, die sich im Krieg befinden? Hätte der Krieg ohne sie vielleicht längst enden können? Wäre es überhaupt zum Krieg gekommen, wenn es weniger ‚Mitläufer‘ gäbe?“
Ich kann mich einfach nicht gegen meine ständigen Assoziationen wehren: Natürlich steht mir die Situation in Kroatien vor Augen. Dort gibt es so viele dieser „Mitläufer“, dass jeder, der es nicht ist, wirklich schreien und schreien muss, um sich selbst und andere davon zu überzeugen. Allzu leicht lässt sich der Eindruck gewinnen, dass man ausnahmslos alle zu den „Mitläufern“ zählen kann!
Die Nutznießer von Diebstahl und Korruption setzten sich durch, Stets hielten sie ihre eine Hand (die entschiedenere) schützend auf der Tasche mit dem Diebesgut, die andere theatralisch auf dem Herzen (sofern diese Leute überhaupt wussten, wo sich das Herz befindet). Letzteres natürlich, um ihren „patriotischen“ Vorwand glaubhaft zu machen. Daneben gab es diese anderen, jene sehr wichtigen Leute in den langen Gewändern, Pädophile und ihre Beschützer, die weiterhin ungestraft über Moral reden und gleichzeitig reine Gedanken vergiften.
Für die Zeit nach dem Krieg, wenn es um den Neuaufbau der Gesellschaft geht, würde ich mir wünschen, dass die Ukraine vernünftiger handelt und schnell lernt, was zu tun ist und was NICHT!
Schickt bitte dann alle zu dem Zeitpunkt Verantwortlichen zum Lernen nach Kroatien, in eine noch zu erfindende Ethik-Werkstatt. Am besten nach Vukovar! Damit sie dort anschaulich erfahren, was Politik AUF KEINEN FALL DARF!
„Der Mitläufereffekt (… der Mensch möchte dort sein, „wo die Musik spielt“) ist ein Kommunikationseffekt, der beschreibt, dass Menschen ihr Verhalten an dem von ihnen wahrgenommenen Umfeld ausrichten. Der Effekt wurde von Paul Felix Lazarsfeld in die Wissenschaft eingeführt. Er unterscheidet sich stark vom Netzwerkeffekt, da ein gemeinsamer Nutzen nicht das Ziel ist… Das ergänzende Gegenstück zum Musikwagen-Effekt ist die Schweigespirale, die die Nicht-Mitläufer betrachtet. Die Schweigespirale entsteht auf Grund des Mitläufer-Effektes, denn diejenigen, die eine gegensätzliche Meinung vertreten, beschließen laut Theorie zu schweigen, statt ihre Meinung öffentlich kundzutun.“ –
schreibt Wikipedia.
Mit dem Export des kroatischen Schweigens könnte Kroatien bares Geld verdienen!
Wenn ein Russe, der in der Ukraine lebt, dort Staatsbürger ist, dort zu Hause ist, in der ukrainischen Armee kämpft… und vom Besatzer gefangen genommen wird, – was erwartet ihn dann?
Ich spreche mit Ukrainern und Russen darüber.
Kurzgefasst: Die Angst vor einer solchen Kriegsgefangenschaft ist größer als die vor einem Kampfeinsatz!
Reginas Tagebuch (Tag 6, Freitag)
Am Abend kann ich nicht gut einschlafen. Ein Gewitter tobt direkt über uns. Ich muss über die Frauen nachdenken, die neu dazu gekommen sind und über die Ausstellung.
Die Nachrichten über das Atomkraftwerk in Zaporizha habe ich bisher eher von mir weggeschoben, aber mit dem Gewitter kommen die Gedanken und die Ängste hoch.
Ich beschließe am nächsten Tag A3-Mappen zu kaufen, damit die neuen Teilnehmerinnen auch ihre Kunstwerke irgendwo sammeln können…mir kommt die Idee die Bilder, welche die Teilnehmer*innen machen alle zu einem Heft zusammenzubinden.
Bei der 6. Session kriegen alle einzelne Aufgaben. Die Leute, die neu dazu gekommen sind und die, die schon länger dabei sind werden heute zusammengebracht. Wir arbeiten nicht im Stuhlkreis, sondern stellen die Tische zusammen, so dass wir wie in einer Werkstatt arbeiten können.
Die meisten schreiben erst einmal 20 Minuten lang. Alles was einem in den Sinn kommt, ohne Punkt und Komma, ohne auf die Grammatik zu achten.
Anschließend soll aus diesem Wörter-Meer das wichtigste markiert und auf ein neues Blatt geschrieben werden.
Einige schreiben Haiku-Gedicht.. In verschiedenen Phasen, soll das, was man aus dem Wörterozean herausgefischt hat immer weiter reduziert werden. Bis am ende ein 3-Zeiliges Gedicht entsteht, mit jeweils 5, 7 und 5 Silben
Diejenigen, die gestern bereits Haikus geschrieben haben, schreiben vier (?) Sätze aus ihrem Wörter-Meer heraus. Diese visualisieren sie in Form eines Menschen mit Wirbelsäule, Armen, Beinen und Bauchnabel innerhalb eines roten Rahmens. Das wird dann weiter ergänzt mit Pastellfarben.
Eine Teilnehmerin, die schon damit fertig geworden ist, macht anschließend kleine Bilder mit der Farbe des Tages. Darauf kommen auch später Sätze aus dem Wörter-Meer.
Ich male auch so ein kleines Bild. Während ich versuche die Farbe Beige aus weiß, blau, gelb und rot zu mischen geht vieles von dem Gruppengeschehen an mir vorbei. Nachdem ich das Bild fertig gemalt habe, versuche ich zwischendrin ein bisschen zu übersetzen.
Alle einzelnen Teilnehmer*innen mit ihren unterschiedlichen Aufgaben und ihrem verschiedenen Rhythmus zu verfolgen und die nächsten Anweisungen zu geben, ist keine einfache Koordinationsaufgabe. Ich habe auch mal Haikus aus einem Wörter-Meer bei einem Coaching mit Niksa herausgefischt, aber kann mich nicht mehr an die einzelnen Schritte erinnern.
Von den Frauen, die neu dazu gekommen sind, konnte die Frau mit dem Sohn nicht kommen. Ich erfahre, dass dieser beim ukrainischen Militär ist und verschwunden ist. Seit 3 Monaten gibt es kein Zeichen von ihm…
Viele Teilnehmer*innen bringen Geschenke. Nikša bekommt eine kleine selbstgestrickte Figur und eine Julá. Ein anderer Teilnehmer bringt uns beiden Schokolade und ein Eis. Es ist sehr viel Zuneigung und Dankbarkeit da.
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08.07.2023.
Ich erinnere mich an den großen polnischen Dramatiker Slawomir Mrožek (1930-2013) und sein groteskes Stück „Die Polizei“, erschienen 1958. – Gerne mal lesen!
Man sollte wissen, wie viele Gefängnisplätze ein Land hat, gemessen zum Beispiel an seiner Fläche, den Quadratkilometern. Vielleicht spielt die Fläche auch gar keine Rolle, vielleicht ist nur die Gesamtzahl der Einrichtungen ausschlaggebend; oder vielleicht möchte jemand lieber wissen, wie viele Zellen es gibt, abgeschlossene Räume für zwei Personen zum Beispiel, oder auch, wie viele Korridore es gibt, wie dick die Gefängnismauern sind usw. Ich sehe, mir fehlen Informationen, mir fehlt das Wissen zu diesem Thema. Ich denke, alle diese Dinge sind aber aus sehr gutem Grund wichtig zu wissen, wenn der Widerstand der Bevölkerung vorbereitet wird.
Auch, dass die Machthaber gerne Gewalt anwenden, um ihre Gegner einzusperren.
Es müssen nur mehr Menschen auf die Straße gehen, als in den Gefängnissen Platz ist!
Auf dem Territorium des größten Landes der Welt, 11,5 % der Erdoberfläche, kann man derzeit vor allem lernen, wie man Gegner wegschließt, außer Gefecht setzt und mundtot macht.
Aber wie viele Gefängnisplätze hat das „größte“ Land der Welt? Der kleine, komplexbeladene Psychopath an seiner Spitze füllt sie ja schon jetzt gnadenlos mit „Staatsfeinden“ auf.
Ich frage mich: Wie viele Menschen müssten inhaftiert werden, um die Kapazität der Gefängnisse zu sprengen?
Ich frage mich, was passieren würde, wenn immer mehr Demonstranten auf die Straße gingen, den Gefängnissen aber die Kapazitäten fehlen – was kann dann noch passieren?
Nehmen wir an, 15 % der Bevölkerung – also in diesem Fall etwa 22,5 Millionen Menschen – demonstrieren mit Slogans wie: STOP THE WAR! WIR WOLLEN KEINEN WEITEREN! WIR GEBEN DIR UNSERE KINDER NICHT! WIR SIND KEINE MÖRDER!… und ähnliches, ZIEH DICH ZURÜCK! GEH AUS DEM WEG! – Die Leute gehen auf die Straße und rühren sich nicht von der Stelle. Die Zellen in den Gefängnissen sind voll. Kein Platz mehr.
Wird dieser Kerl in einem solchen Fall der Armee und der Polizei befehlen, auf die Bürger seines eigenen Landes zu schießen? Die Rebellen würden doch eine solche Polizei und Armee von Verrätern ihres Volkes glatt überrollen, und zwar ganz ohne Waffengewalt. Oder?
In einem Gespräch sage ich meinem Gegenüber: Die heutige russische Politik ist eine Politik von echten „Wilden“ und „Primitiven“! – Und bekomme sofort die reflexhafte Antwort: Was ist denn mit der amerikanischen Politik?
Um die Gemüter zu beruhigen sage ich: Das ist das Gleiche.
Vergleicht euch nicht auf solcher Ebene! Seid einfach besser als sie, aber wetteifert nicht darum, wer Menschen noch schlimmer zu verletzen, noch besser zu vernichten weiß.
Eine Besatzung, dieses Besetzen und Besitzenwollen eines schon bewohnten Gebiets, ist eine Schande für den Besatzer! Und die erste Ursache für weitere Gewalt.
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Zu Art Against Pain:
Ich wiederhole, was wir bereits geübt haben: das Zeichnen von Spiralen mit beiden Händen und jeweils fünf Bleistiften, mit geschlossenen Augen. Dabei wird nun deutlich sichtbar, welche enormen Fortschritte wir gemacht haben: um wie viel ruhiger und sicherer alle geworden sind.
Reginas Tagebuch (Tag 7, Samstag)
Wir waren 4 Leute, die damit beschäftigt waren, Haikus zu schreiben.
Die meisten hatten am Vortag die Aufgabe bekommen, morgens 20 Minuten lang ohne Punkt und Komma zu schreiben.
Ich versuche mir jetzt den genauen Ablauf zu merken.
Erst kommt die Wirbelsäule – alle Markierungen aus dem, was man geschrieben hat, als Absätze oder Zeilen untereinander geschrieben. Das was einen hält, das was man für wichtig empfindet…
Dann kommt die Impfung. Ein Drittel (und mindestens 5) von den Absätzen/Punkten, die man aus der Wirbelsäule auswählt. Eine Rezeptur, um sich gegen Krankheiten zu wehren.
Dann kommt die nächste Phase, in der das, was in der Impfung drin ist, nochmal verbessert wird, so dass keine Nebenwirkungen entstehen. Höchstens 4 Punkte.
Mir fehlt noch ein Zwischenschritt glaube ich. Aber nach dieser Phase fange ich schon an aus den 4 Punkten ein Haiku zu machen. 2 Punkte fasse ich zu einem zusammen. Es entstehen 3 Zeilen mit 5, 7 und wieder 5 Silben. Eine Zeile davon auf ukrainisch. Die anderen Zeilen – zu schwer zu übersetzen und gleichzeitig in der Silbenzahl zu bleiben. Auch wenn ich weiß, dass es möglich ist, wenn man es nur lange genug versucht.
Welcher Inhalt ist einem so wichtig, dass man ihn lange genug hin und her wälzt, bis er in 5 oder 7 Silben passt?
Wir werden jetzt 5 Tage lang jeden Tag ein Haiku schreiben und dieses Haiku auf eine kleine Bildform mit unserer Farbemotion des Tages bringen. Einige haben schon 3 Bilderchen, einige erst 1, einige noch keins. Unsere Rhythmen sind unterschiedlich.
Als nächstes wieder eine Gruppenübung.
Alle nehmen jeweils 5 Bleistifte in eine Hand und machen wieder Spiralen auf Papier. Das, was wir auch am ersten Tag gemacht haben. Das Bild, das aus unseren Spiralen entstanden ist, hängt noch immer an der Wand. Wir sehen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu den neuen Bildern. Wir können uns eine Farbe aussuchen und Fingerabdrücke auf die Spiralen machen.
Welche Gehirnhälfte ist aktiver, welche weniger? Welche Unterschiede gibt es zu unseren ersten Spiralbildern? Was hat sich verändert? Wo haben wir unsere Fingerabdrücke gesetzt?
Wenn wir während dem gesamten Projekt-Prozess Spiral-Bilder machen, was zeigt sich dann auf diesem Diagramm unseres Gehirns?
Unabhängig von den Spiralbildern merke ich tatsächlich eine Veränderung. Mehr Wahrnehmung von Details, mehr Wahrnehmung von meinen Träumen, mehr Wahrnehmung von meinem Unterbewusstsein…ich merke nicht nur, dass es regnet, sondern ich sehe auch die vielen kleinen Regentropfen auf der Fensterscheibe, wie sie sich bewegen und in welchem Abstand sie zueinander stehen, wie sie sich gegenseitig mitreißen.
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09.07.2023
Bei uns nur Nachtalarm, Warnungen. Anderswo gibt es in dieser Nacht Tote und Verletzte.
Ein Spaziergang am Fluss entlang, eine U-Bahnfahrt. Der Maidan, ein Abendessen im Restaurant, dann Park, Theater, die Glasbrücke. Alles sehr interessant. Aber man vermag nie, diesen Krieg zu vergessen.
Es war wirklich toll, mich mit Regina über vergangene Revolutionen zu unterhalten und über Zukunftshoffnungen. Sie denkt sehr tiefgründig, argumentiert sehr klar und hat direkte Erfahrungen aus ihrer politischen Arbeit. Ich sehe, dass sie auch in diesem Tagebuch ihr Anliegen sehr deutlich macht: Sich wirklich mit den Details auseinanderzusetzen, um zu substanziellen Lösungen für das große Ganze zu gelangen!
Das schien mir jetzt wichtig, es hier festzuhalten… Ich selbst glaube eher an kleine Veränderungen von großer Bedeutung, ich glaube nicht an Revolutionen. – Wir gehen an einer Häuserwand mit Fotos entlang, Fotos der bei den hiesigen Protesten Getöteten; alles junge Menschen, alle zwischen frühem Erwachsenenalter und etwa dreißig, nur zwei, drei von ihnen sind älter. Ich schaue mir das an und sage bitter: Es wird Zeit, dass wir uns daran gewöhnen, die Welt künftig ohne Nachkommen zurückzulassen, einfach keine Kinder mehr zu haben.
Es ist an der Zeit, vor jedem Neugeborenen niederzuknien und um Vergebung zu bitten, sogar um Gnade zu flehen dafür, dass wir unsere Kinder in diese unsere Welt gebracht haben – eine Welt voller Zerstörungen, Krieg und Klimakatastrophe, mit riesiger Pro-Kopf-Verschuldung –, weil sie es sind, die ächzen werden unter allem, was wir verbrochen und ihnen als Vermächtnis hinterlassen haben.
Und ganz genauso ist es für uns Weiße endlich an der Zeit, den Kopf zu beugen und auch vor dunkelhäutigen Menschen zu knien und um Vergebung zu bitten für alles, was wir ihnen angetan haben, und zugleich unsere Stimme laut vernehmbar zu erheben gegen alle heutigen (und die sich erst noch ankündigenden) rassistischen Auswüchse!
Art Against Pain wird seine Arbeit beharrlich fortsetzen!
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Für dieses erste Projekt „Im Roten Rahmen: Ukraine“ habe ich bei einem Gespräch im Gehen unsere nächsten Schritte in diesem „Work in Progress“ einmal skizziert:
Wir werden als nächstes die Ausstellung in Berlin zeigen, als interaktive Präsentation mit den Besuchern, und zu diesem Event eine besondere Einladung aussprechen: Die Werke und der Rote Rahmen selbst sollen dann nämlich an Geflüchtete aus ganz unterschiedlichen Ländern sozusagen „weiter gereicht“ werden: an Geflüchtete, die sich jetzt in Berlin aufhalten!
Der Rote Rahmen möchte auch die Erfahrungen dieser Geflüchteten festhalten und einen Austausch anregen; die Roten Rahmen selber werden sich quasi miteinander austauschen. Weitere Werke werden entstehen, um so auch weiterhin die nötige Kraft freizusetzen für den Aufbau neuer, menschenwürdiger Lebensperspektiven.
Art Against Pain kann die neuen, fertigen Roten Rahmen von Berlin aus dann überall hinschicken – und von von überall her auch nach Berlin…
Art Against Pain wird seine Arbeit beharrlich fortsetzen!
Aus der Arbeitsgruppe Kiew laden zwei Teilnehmer nach Berlin ein.
Als möglicher Termin für die Umsetzung des Vorhabens in Berlin setzen wir den Zeitraum vom 13. bis 23. November 2023 fest.
Wir werden Kooperationspartner suchen, um die Kosten für Raum, Material, Hosting und den eigenen Arbeitsaufwand stemmen zu können. Wir werden auf diese Weise alle notwendigen Mittel sichern können, um das Projekt „Im Roten Rahmen: Ukraine“ weiterzuführen.
Macht euch bereit für neue Herausforderungen!
Und ja, ich will auch unbedingt mit echter Mitwirkung und Hilfe von jedem Einzelnen rechnen dürfen, der die Arbeit von Art Against Pain bereits unterstützt oder noch unterstützen möchte.
Reginas Tagebuch (Tag 8, Sonntag)
Wir haben mit der Gruppe beschlossen, am Sonntag einen Tag frei zu machen.
Nikša und ich fahren auf die andere Seite des Dnipro, um den Maidan zu sehen. Dort wo 2014 drei Monate lang Massenproteste stattfanden, welche schließlich die damalige pro-russische Regierung von Yanukovitsch umstürzten.
Wir gehen zur Straße, die am Maidan entlang führt, von der ich wusste, dass dort Denkmäler der etwa 100 zum Großteil jungen Leute sind, die während der Proteste erschossen wurden.
Hinterher aßen wir etwas kleines in einem Café. Unser Gespräch ging um das Thema Revolution. Nikša und ich hatte unterschiedliche Hoffnung und unterschiedliche Perspektiven auf das Thema. Gibt es heutzutage noch Hoffnung auf Revolution? Ich denke ja, aber man muss Revolution neu definieren. Ein Umsturz von Regierungen, die dann durch eine andere Regierung ersetzt wird, hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht als besonders erfolgreich erwiesen. Entweder wurden Aufstände blutig niedergeschlagen oder die Regierungen, die stattdessen an die Macht kamen waren nicht viel besser, als die vorherigen. Ich denke es sollte nicht darum gehen, den Kopf der Pyramide durch einen anderen Kopf zu ersetzen, sondern die Pyramide umzudrehen. Dafür muss man sehr lokal ansetzen und gut organisiert sein, Dafür muss ein anderes Gesellschaftsmodell vorgeschlagen und organisiert werden
Lebende Beispiele dafür gibt es nicht viele, aber die gibt es. Zum Beispiel errichtet die kurdische Befreiungsbewegung in Nord- und Ostsyrien ein System auf Basis von Räten und Kommunen. Menschen versammeln sich in der Nachbarschaft als Kommunen und haben Kommissionen für alle Bereiche des Lebens (Gesundheit, Bildung, Ökonomie, Selbstverteidigung, …). In diesem Kommunen werden versucht alltägliche Probleme zu klären, z.B. Konflikte in Familien durch die Gerechtigkeitskommission zu lösen oder Kooperativen für z.B. den Verkauf von Brot zu gründen, um wirtschaftliche Probleme anzugehen. Für alle Probleme die zu komplex sind, um auf kommunaler Ebene zu lösen, werden auf der nächsten überregionalen Ebene versucht zu klären, z.B. in den Stadträten, in die auch Delegierte geschickt werden. Dafür muss die Gesellschaft gut organisiert sein und das passiert nicht von heute auf morgen, 30 Jahre lang wurde dort die Arbeit geleistet, damit es möglich ist so ein System aufzubauen und die Arbeit geht noch weiter. Dafür müssen revolutionäre Kräfte eben auch gut organisiert sein, um diese Arbeit kontinuierlich weiterzuführen…
Auch in Chiapas, in Südmexiko, errichten die Zapatistas eine autonome Selbstverwaltung. Nachdem die indigene Bevölkerung, Nachfahren der Mayas in Chiapas Jahrhunderte lang ausgebeutet wurden, planten sie als Zapatistische Nationale Befreiungsarmee einen Aufstand. Auch das waren 10 Jahre lange Organisierungsarbeit in der Klandestinität. Im Jahr 1994 besetzten sie mehrere Hektar Land und riefen die Autonomie aus. Sie wollten keine neue mexikanische Regierung. Sie wollten nur Autonomie und errichteten ihren eigenen „Rat der guten Regierung“. Lokale Räte, bei denen die Delegierten immer wieder wechseln und lokale Entscheidungen treffen. Sie errichteten Schulen und Gesundheitszentren.
Iran, Sudan, Chile, Belarus, …die Liste kann noch lang weitergeführt werden. An vielen Orten fanden in den letzten Jahren Aufstände und Revolutionen statt, die wenigsten davon erfolgreich darin ihre Regierungen umzustürzen.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer sudanesischen Aktivistin vor einigen Monaten. Sie erzählte davon, wie der aktuelle Militärputsch in eine Geschichte von Revolution und Konterrevolution einzuordnen ist. Und auch davon wie stark die Rolle von Frauen in der Revolution von 2018 war und immer noch ist. Der Kampf geht weiter. Sie wollen sich nicht auf die eine oder die andere Seite schlagen, sondern bauen „Resistance Commitees“ in der Nachbarschaft auf.
Dass die Rolle von Frauen und feministischen Kämpfen (auch von LGBTQIA+) eine besondere ist, entspricht dem Geist der Revolutionen unserer Zeit. So auch im Iran, wo der Slogan „Jin Jiyan Azadî“ (Frauen Leben Freiheit) in die Welt hinaus schallt. In Lateinamerika ist die feministische Bewegung in den letzten Jahren sehr erstarkt. In Argentinien werden jährlich feministische Nationalversammlungen organisiert, wo mittlerweile Hunderttausende teilnehmen.
Darin liegt denke ich die Hoffnung. Die patriarchale Mentalität und Vorstellung von Revolution zu brechen und eine neue Herangehensweise von Revolution zu organisieren mit einer feministischen Mentalität. Auch in Nord- und Ostsyrien wird von einer Frauenrevolution gesprochen, z.B. sind Delegierte der Räte und Kommunen immer jeweils ein Mann und eine Frau. Frauen bauen ihre eigenen Organisationsstrukturen auf, z.B. Fraueneinheiten, Frauenhäuser, Frauenakademien, ein Frauenfernsehsender, etc. Das bedeutet nicht, dass Männer an zweiter Stelle stehen, sondern dass mit der Kraft von Frauen eine gerechte Gesellschaft errichtet wird.
Für Europa ist das natürlich schwer sich vorzustellen. Aber auch da ist es denke ich wichtig, sich zu organisieren und jetzt schon kommunale solidarische Netzwerke aufzubauen, die eine Alternative zum herrschenden System bilden. Ich denke wir haben auch keine andere Wahl, als das zu tun. Wenn ich mir vorstelle, wie das Thema Krieg näher rollt, die Klimakatastrophe immer spürbarer wird und auch ökonomisch mehr und mehr Menschen in die Prekarität gedrängt werden, haben wir eigentlich keine andere Wahl, als uns für eine Alternative zum herrschenden System zu organisieren. Und auch wenn man Realitäten nicht copy und paste übertragen kann, können wir da denke ich viel von anderen Kämpfen lernen…
Ich schaue auf den Maidan und stelle mir vor wie die Straßen komplett mit Menschen gefüllt waren. So einen Massenaufstand mit einer so großen Hoffnung auf Veränderung habe ich noch nie erlebt. Wie ist es, wenn Millionen von Menschen zusammenstehen und etwas so großes wie den Umsturz einer Regierung vorhaben. Drei Monate lange versammelten sie sich auf dem Maidan, mitten im Winter.
Am Abend treffen wir noch Yasha und meinen Cousin Wadim. Wadim zeigt uns wo die Bühne stand, wo die Barrikaden waren, wo es gebrannt hat, wo geschossen wurde. Viele haben geholfen mit Ofen-Spenden, Essens-Spenden. Es war zwar sehr kalt, aber es gab Unterhaltung durch Künstler*innen, viele Feuerstellen und Öfen, heiße Getränke und Essen…alle haben mit angepackt „Das Gewerkschaftshaus war das Hauptquartier“, sagte er, „das wurde in Brand gesetzt, um die Revolution zu unterbinden“.
Doch der Umsturz Yanukovitschs war erfolgreich. Laut W. sei es aber nicht besser, sondern auf ökonomischer Ebene sogar schlimmer geworden. Er ist enttäuscht von dem, was danach kam. Poroschenko habe die Ökonomie des Landes zerstört. Er beklagte sich darüber, dass eine Gangster-Bande durch eine andere Gangster-Bande ersetzt wurde. Das wofür er gekämpft hat, sei etwas anderes gewesen.
Wir sitzen in einem Restaurant mitten auf dem Maidan. Der Eingang ist sehr unscheinbar und sieht aus wie die Tür zu einem Notausgang oder Bunker. Am Eingang werden wir nach einem Passwort gefragt. „Kämpfe und du kannst gewinnen“ – es ist die Zeile aus einem Gedicht von Taras Shevtschenko. Seine Dichtung trug stark zur Entwicklung der modernen ukrainischen Sprache und zum Erwachen des ukrainischen Nationalbewusstseins bei.
Wir wissen das Passwort natürlich nicht, aber kriegen es am Eingang erklärt und kommen trotzdem rein. Dort wo das Restaurant war, war während der Maidan-Revolution alles abgesperrt. Durch den Untergrund kam man zu der Zeit gar nicht durch, sagte uns Wadim.
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10.07.2023
Ich habe mich an die Nachtalarme gewöhnt, ich öffne meine Augen, wenn ich sie höre, und bleibe im Bett.
Sie greifen wieder an! Der Gedanke geht mir durch den Kopf… und ich schweige und schaue an die Decke und warte, dass es vorübergeht.
Und andere Gedanken schwirren mir durch den Schädel: Ich lebe in Deutschland, das im Gefolge des Zweiten Weltkriegs seine Katharsis erlebte. Aber auch heute noch sind die Deutschen nicht frei von den Folgen und Schatten dieser Zeit. Sie wurden mit der Teilung ihres Landes überaus deutlich und für lange Zeit bestraft. Welche Strafe ist angemessen für das, was sich Putin und seine Anhänger erlauben?
Ich lebte in West-Berlin, das von der Berliner Mauer birnenförmig eingeschlossen war. Ich bin damals fast jeden Sonntag nach Ost-Berlin gefahren, weil ich mit meinen SFRJ-Pass ohne größere Komplikationen mich dort aufhalten konnte. Ich habe die Unterschiede zwischen der Politik der DDR und jener der BRD sehr wohl bemerkt, ich würde sogar sagen, ich habe sie fast hautnah gespürt. Sonntags allerdings habe ich so einige unvergessliche Momente im Osten erlebt. Interessante Gespräche auch. Manchmal erzählte ich von Tito und davon, dass er 1948 einen großen und schicksalhaften Schritt getan hatte, als er NEIN zu STALIN (!) sagte. Auch davon, wie froh wir in diesen Gebieten darüber waren, dass eben gerade TITO das Land führte! So hatte er zum Beispiel klare Grenzen für jede Republik festgelegt; Grenzen, die bis heute intakt sind, einschließlich der Staatsgrenzen um das Territorium der heutigen Republik Kroatien… Dieses Kroatien mit dem zurückgekehrten Istrien und der Küste und mit Zadar, die ja einst alle mal von der Ustascha weg „geschenkt“ worden waren: dieses Kroatien in seinen anerkannten Grenzen ist doch wirklich ein großartiges Ergebnis, ein Erfolg Titos, seiner Partisanen und der antifaschistischen Bewegung. Und in komplizierten Zeiten initiierte er die Bewegung der Blockfreien!
Der heutige Schulterschluss einer großen Anzahl Länder; eben diese Blockbildung zum erklärten Zweck, der Ukraine zu helfen – was bringt das am Ende wirklich? Ich bin kein Freund der beschleunigten Aufrüstung eines jeden dieser Länder.
Die Welt hat begonnen, sich sehr zu verändern. Dass sie SCHLECHTER GEWORDEN ist, erleben wir bereits heute!
(Vielleicht bestünde die einzige Lösung darin, diese Art von Welt einfach mal komplett zu beseitigen, um noch einmal ganz von vorn anfangen zu können. Evolution zurück auf Null. Erneut vom Procaryonten zur Rippenqualle zum Lungenfisch… und so weiter. Alles noch einmal neu und diesmal richtig…)
Übrigens, „Kannibalen lieben einander“, denke ich. So lautet der Titel eines Aphorismenbuchs von Toma Bebić. Irgendwie fällt der Spruch mir gerade zum obigen Thema ein.
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Wir arbeiten sehr ruhig, sehr konzentriert… Jetzt können wir über ganz konkrete und persönliche Schmerzen sprechen… die einzelnen Kreisel sind noch nicht alle auf den Beinen, aber sie drehen sich entschlossen und kugeln langsam in diese Richtung…
Reginas Tagebuch (Tag 9, Montag)
Das Projekt „Im Roten Rahmen“ hat nur noch wenige Tage, bis zum Ende seiner ersten Phase in Kyiv. Mich beschäftigt die Frage inwiefern ich weiter dabei sein werde. So oder so wird es weitere Leute brauchen, die die Umsetzung der Ausstellung in Berlin organisieren…
Wir arbeiten alle weiter an den Haikus. Anschließend übertragen wir sie auf 10×10 cm – Minibilder, aus hartem Material, die so ähnlich aussehen wie Leinwände. Beim Schreiben der Haikus beschäftigen mich ebenfalls die Fragen über Zukunftsperspektiven.
Vorher mischen wir die Farbe unserer Emotion des jeweiligen Tages, an dem das Haiku entsteht. Für jede Person sollen 5 solcher Bilder entstehen, die jeweils 5 verschiedene Tage, Farben und Erkenntnisse abbilden.
Mich plagt seit dem Morgen schon ein eingeklemmter Nerv im Nacken. Allgemein habe ich an diesem Tag eine komische, sensible Stimmung. Mein Bild wird dunkelbraun, fast schwarz.
2 Teilnehmer*innen malen Bilder im Roten Rahmen. Die Rentnerin hat noch kein Bild im Roten Rahmen durch Schattierungen und Pastellkreide gemalt und erhält nun diese Aufgabe. Es entsteht ein wunderschönes Kunstwerk mit einer grau übertönten grünen Pflanze. Wir geben ihrem Bild einen Namen.
Ein anderer Teilnehmer hat die Aufgabe ganz viele kleine Formen in einen Roten Rahmen zu bringen. Er hat schon vorher viel Sinn für Mechanisches und für Deteils von kleinen Formen gezeigt. Nikša fragt ihn, was er beruflich macht. Er sagt, er repariere Computer.
„All diese Formen die ich male erfinde ich nicht neu, das sind Dinge, die ich aus dem Kopf heraus zeichne, nicht aus dem Bauch heraus. Also es ist keine richtige Kunst“, sagt er
„Ja, aber die Kunst daran ist Zusammensetzung und die Größe der Bilder, die du aus dem Bauch heraus wählst“
Wir schauen uns gemeinsam die verschiedenen Mini-Bilder an die entstanden sind. Haikus auf den Farben unserer Emotion, gemischt mit Emotionsbildern vom ersten Tag, die wir mit Fingerabdrücken gemalt haben und mit Emotionsbildern, die hinterher noch mit Pastellkreide entstanden sind. Viele kleine, quadratische Bilderchen. Wir lesen uns gegenseitig die Haikus vor und ändern die Reihenfolge. Wir ändern die Reihenfolge anhand der Verse und anhand der Farben.
Eine Teilnehmerin, die seit dem ersten Tag dabei ist und uns mit ihren Übersetzungskünsten gerettet hat, hat Nikša und mir selbstgestrickte Socken von ihrer Mutter und Schokolade mitgebracht. Das Highlight des Tages:)
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11.07. 2023
Als der rote Alarm auf allen Mobiltelefonen und die lauten Sirenen in der Stadt uns zum nächsten Schutzbunker laufen ließen, brachten alle Teilnehmer des Art-Against-Pain-Workshops ganz unaufgefordert ihre Malblocks und Bleistifte mit – wow!
„Scheiß auf den Krieg, lasst uns in Ruhe, lasst mich in Frieden leben, lasst mich das Bild in Frieden fertigstellen und meine persönlichen Probleme lösen!“ sagt eine Teilnehmerin in schnellem Stakkato.
Wir erreichten den Eingang zu den Schutzräumen des nahegelegenen Krankenhauses – das aber gerade renoviert wird und nicht in Betrieb ist. Pff!
Mir ist, als wäre ich in Kroatien. Ich denke: Schlecht Improvisiertes überall. Eklatante Verantwortungslosigkeit. Gefährliche Schlamperei.
Ich teile Y. diesen Gedanken mit, und er antwortete lachend: „Willkommen, fühl dich wie zu Hause.“
Zum Glück ist mein „Zuhause“ nur das, was ich mir über die Jahre selbst aufgebaut und in mich hineingelassen habe.
Natürlich haben auch mich meine Lebensumstände geprägt, eine bestimmte Schulbildung, gewisse Orte, Reisen und Ortswechsel, meine Sozialisation in einem bestimmten Sozialgefüge, gewisse Mikro- und Makro-Erdbeben nebst geerbten Bräuchen und erlernten Gewohnheiten. Aber den stärksten Einfluss auf mein Leben hatte immer meine Ablehnung jeglicher Fremdbestimmung durch Tradition, Erziehung, Zugehörigkeit zu irgendwas oder den Glauben an irgendetwas Irrationales außerhalb von uns, das uns steuern will, indem es uns bricht. Ich spüre einen starken Widerwillen gegen solches Ferngesteuertsein, gegen alle diese künstlichen Gebilde, die uns übergestülpt werden und dann kaputt gehen und vielen Menschen das Leben zur Hölle machen…
Hier in Kiew sehe und erlebe ich die Tragödie der Massen, die durch eben solche Fremdbestimmung und von solchen repressiven, aufgepressten Formen, in denen ihr Leben organisiert wird, regelrecht erdrückt werden.
Du musst dich dagegen wehren, du musst dein Eigenes verteidigen! Wut ist großartig, sie setzt die Kraft des Trotzes frei und die Entschlossenheit, die es braucht, um Aggressionen abzuwehren.
Reginas Tagebuch (Tag 10, Dienstag)
Das Dunkelbraun/fast-Schwarz lichtete sich zu einem hellblauen Farbton.
Bis alle eintrudelten arbeiteten wir weiter an unseren Haiku-Bildern.
Dann beginnen wir mit einer neuen Technik des Roten Rahmens. Auf unser leeres A3-Blatt kommt ein riesiger Roter Rahmen, der unseren Bauch wieder spiegelt. Darin befinden sich Organe, ein Organismus. Wir sollen aber nicht Organe malen, sondern einen Organismus, einen Mechanismus unserer Fantasie. Eine Art Fantasie-Maschine. Während ich male begreife ich die Aufgabe erst nach und nach. Es entstehen wie ganz automatisch zusammenhängende Teile. Intuitive Bilder. Eine Geschichte. Auf allen Blättern entsteht eine Geschichte…
Während wir malen ertönen die Sirenen. Die Handys klingeln los. Alarm.
Bisher, wenn Alarm war und wir zu Hause waren, haben wir es entweder ignoriert oder sind in den Flur (also einen fensterlosen Raum gegangen). Doch als der Alarm im Museum losging, ist die Aufregung innerhalb der Gruppe sehr unterschiedlich. Sollen wir einfach weiter malen oder gemeinsam Schutz suchen? Gerade die Mitarbeiter*innen des Museums spürten eine Verantwortung für die Gruppe und schlugen vor in den nächstgelegenen Bunker zu gehen. Viele wollten ganz automatisch ihr Bild mitnehmen, einige waren sich nicht sicher. Die Mitarbeiterin des Museums, die an dem Projekt nicht teilnahm, versuchte noch es uns auszureden. Einige nahmen also stattdessen ihre Haikus mit. Wir liefen zum Bunker, der etwa 5 Minuten entfernt bei dem Krankenhaus lag. Aber dort fanden Bauarbeiten statt und wir konnten ihn nicht nutzen. Wir stapften wieder zurück Richtung Museum. Kaum waren wir angekommen ertönten auch schon wieder die Sirenen. Der Alarm war vorbei.
Später erzählte die Mitarbeiterin des Museums, die uns zu dem Bunker führte, dass sie seit dem letzten Alarm morgens um halb 5 nicht mehr geschlafen hatte und deshalb sehr müde war. Niksa lud sie zur Namensgebung von einem der Bilder ein.
Die übliche Prozedur, aber ein bisschen anders. Alle gaben ihre Bilder herum und wir konnten sie 10 Sekunden lang angucken. Doch bevor wir das erste Bild herumgaben, damit alle es mit 5 Stichpunkten beschreiben können, sollte jede*r selbst sagen, was auf ihrem Bild jeweils zu sehen war. Ich spürte gerade bei diesen Roten Rahmen mit dem Bauch-Mechanismus eine große Neugier zu erfahren, was die Bilder bedeuteten. Denn sehr offensichtlich standen konkrete Gedanken und Geschichten dahinter. Nachdem alle ihr eigenes Bild beschrieben, entschieden wir uns für ein Bild, dem wir nun einen Namen geben würden. Alle sagten 5 Dinge, die sie sahen und schlugen einen Titel vor. Die Museumsmitarbeiterin durfte schließlich den Bildertitel aussuchen.
Wir beendeten den Tag mit einer Reflexionsrunde. Es sind nur noch wenige Tage bis zum Ende der ersten Projekt-Phase. Momentan kommen sehr stabil die selben 4 Leute und sehr wahrscheinlich werden es nicht mehr. Wie kann man einen guten Abschluss finden?
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12.07.2023
Natürlich unterscheiden sich die Menschen in der Art und Weise, wie sie die Dinge und Vorgänge wahrnehmen. Sie unterscheiden sich in ihrem Erleben all dessen, was in ihnen selbst und um sie herum vor sich geht, und auch in ihren Reaktionen darauf.
Diese Unterschiede sind sehr inspirierend. Sie machen die Welt lebendiger. Sie geben den Anstoß für die Entstehung von Leben.
Ich liebe Menschen und bin begeistert von der verblüffenden Einzigartigkeit jedes Einzelnen, wie sie sich auch dann noch zeigt, wenn wir uns in der äußerlich gleichen Situation befinden oder die gleiche Aufgabe zu lösen haben.
Das Gleiche ist nicht das Gleiche. Ähnlich ist nicht ähnlich. Niemand ist wiederholbar.
Wir sind krank, weil wir in kranken Beziehungen leben, in kranken Umgebungen leben, uns in kranken Situationen selbst zerstören und in kranken Gesellschaften bleiben.
Der menschliche Organismus wird immer dann zerfressen, wenn er sich der Macht des Fremdbestimmtseins hingibt.
Wenn Kriege uns zermürben, ist unser wichtigstes Ziel auf jeden Fall das Überleben.
Dass der Mensch den Menschen tötet, entspricht nicht der Natur des Menschen – das ist meine Überzeugung.
Sobald Religionen sich militarisieren, müssen bestimmte Politiker zu Dämonen werden. Auch die zufällige Zugehörigkeit zu einer Nation kann plötzlich eine Brutstätte irrationaler Ängste werden und nationalistische Gewalt mit sich ziehen. Begonnenes Blutvergießen schürt die Ängste erst recht. Und so werden immer mehr Menschen in immer destruktivere Aktionen hineingezogen.
Jeder Versuch, es nüchtern zu betrachten, ist eine echte Herausforderung.
Reginas Tagebuch (Tag 11, Mittwoch):
… sie schrieb „Ich werde reisen“ in ihr Haiku, in ihre 5 -7 – 5 drei Zeilen … die Einladung zu einem Treffen in einem Drittland kam unerwartet … Haiku-Minibilder scheinen magische Kraft zu haben … es ist ihre erste Reise außerhalb der Ukraine seit Kriegsbeginn…“Загалом це були дуже корисні практики для мене, зрозуміти себе, покращити свій стан, відкрити для себе нові горизонти“ „Im Allgemeinen waren dies für mich sehr nützliche Praktiken, um mich selbst zu verstehen, meinen Zustand zu verbessern und mir neue Horizonte zu eröffnen.“
Wir schauen uns alle Bilder an, die wir in diesen 2 Wochen mit insgesamt 19 Teilnehmern gemalt haben.
Es ist viel passiert.
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13.07.2023
Putins Bestien haben letzte Nacht auch Raketen auf Kiew abgefeuert, wobei eine Person getötet und mehrere andere verletzt wurden.
Wir haben aufrecht und ehrlich gearbeitet.
Später erzählt mir Schwester, dass unsere Mutter gestorben sei.
Die einzige, ewige, meine Mutter… ist tot.
Reginas Tagebuch (Tag 12, Donnerstag)
In der Nacht werde ich wach durch ein lautes einmaliges Donnern und einem langen Nachhall. Dann ein zweites Mal. Die Sirenen kurz vorher hatte ich im Schlaf kaum gehört. Aber dieses Donnern war so laut, wahrscheinlich von einer Luftabwehr ganz in der Nähe. Ich höre im Flur einen Wortaustausch zwischen meinem Cousin Wadim und Nikša. Besser sich im Flur verstecken oder weiterschlafen? Ich bleibe noch länger wach…
Am nächsten morgen lese ich, dass Raketen abgeschossen wurden, aber auf der rechten Uferseite in ein Wohnhaus eingeschlagen sind. Ein*e Tote*r und mehrere Verletzte…
Alle Teilnehmer*innen wohnen ebenfalls auf der linken Seite des Dnipro und haben das Donnern auch gehört. Einige Schlaflose Gesichter bei uns und bei den Mitarbeitenden des Museums.
Wir beginnen den Tag mit einer Zeitwahrnehmungsübung. Nikša markiert einen Start- und einen Endpunkt. Wir ziehen uns alle Masken auf. Diese dienen dazu, dass man besser nach vorne gucken kann und weniger zur Seite auf das was die Anderen tun.
Wir stellen und mit etwas Abstand nebeneinander und haben alle die selbe Aufgabe. Wir sollen in 10 Minuten diese Distanz zwischen Start- und Endpunkt (etwa 15 meter) laufen. Ohne zu stoppen, immer in Laufbewegung. Wie ist uns überlassen. Wichtig ist, nach vorne zu gucken und nur auf sich selbst und den eigenen Rhythmus und die eigene Atmung zu achten. Dann wenn wir denken dass 10 Minuten vorbei sind und wir an dem Endpunkt sind, sagt Niksa uns die Zeit, die wir gebraucht haben.
Als eine Teilnehmerin den Endpunkt erreicht hat, während ich noch nicht einmal bei der Hälfte war, lege ich einen Zahn in meinem Schneckentempo zu. Auch der Teilnehmer neben mir tut das. Als er fast am Ende war, nimmt Niksa ihn mit. Ich bin irritiert davon und gucke immer wieder nach hinten. Soll ich auch schon früher abbrechen? Das war der Punkt an dem auch ich ausgeschieden bin, denn ich habe immer wieder nach hinten geguckt und bin nicht bei mir geblieben, was eigentlich die Regel des Spiels war: Bei sich und seinem eigenen Tempo bleiben.
So konnten wir uns bewusst machen, wie schnell wir auf äußere Reize reagieren und uns aus dem Konzept bringen lassen, ob und warum wir eher ein schnelles oder langsames Tempo haben.
Nach dieser Übung hören wir die Reflexion von A., die Teilnehmerin die uns früher verlässt. Anschließend hatten alle die Möglichkeit Nachfragen zu stellen, wie in einem Interview. Leider hat mein Ukrainisch nicht gereicht, um es gut zu verstehen, aber ich habe es mir hinterher nochmal zusammenfassen lassen.
- beschreibt, dass sie fähig war, einige Gewichte abzulegen und entspannter zu werden. Sie war überrascht über ihre ersten Bilder und hat solche dunklen Gedanken von sich selbst nicht erwartet. Ihre Bilder seien mit der Zeit positiver geworden. Sie habe Erkenntnisse durch Haiku und mehr Fähigkeit Dinge bewusst wahrzunehmen. Das bedeutete auch unschöne Dinge bewusster wahrzunehmen, zum Beispiel mit einem größeren Bewusstsein die Anspannung durch die Angriffe in der Nacht zu spüren. Insgesamt habe sie innere Anspannung aber ablegen können, auch wenn ihr anfangs schwer fiel zu verstehen was wir machen und wofür es gut ist.
Nach der Reflexion von A. an ihrem letzten Tag mit uns, malten wir ein Gruppenbild im Roten Rahmen. Allerdings erfuhren wir es, wie so oft, erst im Laufe des Prozesses.
Alle malten selbst einen großen Roten Rahmen auf Papier. Dann sollten wir mit verbundenen Augen und unserem Pastellkreide-Farbton des Tages ein Porträt von uns selber malen. Ich musste lachen und hatte den Wunsch die Bilder zu kommentieren, nachdem wir die Augenbinde ablegten, aber wir sollten leise sein. Die Bilder gingen jeweils zur nächsten Person. Nun sollten alle sich eine Person vorstellen, die im Laufe des Projekts dabei ist oder war und einen Farbton zu dieser Person aussuchen. Wieder das selbe Verfahren. Wir setzten uns eine Augenbinde auf und malten diese Person – in den Roten Rahmen der Person, die uns gerade ihr Porträt Bild gegeben hat. So gingen die Bilder immer weiter, immer mit einer neuen Person, die an dem Projekt teilgenommen hat. Am Ende sind 5 Personen in einem Roten Rahmen.
Wir legen alle Bilder nebeneinander und gucken sie uns an. Welche Personen sind doppelt? Wen kann man erkennen? Wie viele Leute sind es insgesamt, wenn man diejenigen, die mehrmals gemalt wurden nur einmal zählt? Die Übung braucht Vertrauen und bringt einem einander näher.
Am Ende eine Reflexion. Ich teile die Gedanken, die Nikša und ich bezüglich der interaktiven Ausstellung haben…. den Fokus eher auf den Prozess zu legen und einen guten Abschluss von dem Prozess zu finden statt auf die Ausstellung…ich frage in die Runde, was alle dazu denken. Es gab keine Antwort. Wir machten die Reflexionsrunde zu Ende und gingen raus.
Beim Vorbeilaufen an dem Park mit vielen Leuten und schattigen Plätzchen zwischen den Bäumen, kam mir die Idee die Ausstellung draußen zu machen. Im Park gibt es immer ein Publikum, da er vor allem am Wochenende gut besucht ist. Außerdem gibt es für uns dann noch die Möglichkeit, das was wir erarbeitet haben nach außen zu tragen. Nikša gefällt die Idee. Wir beschließen es morgen allen vorzustellen.
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14.07.2023
Zum ersten Mal leitete Regina die ersten drei Arbeitsstunden mit der Gruppe selbstständig. Sie hat es gut gemacht, man konnte es messen und spüren, wieviel Neues sie in diesen fünf Monaten unserer Bekanntschaft für sich angenommen hat. Ich freue mich, dass sie meine Techniken in der Arbeit mit anderen Mitwirkenden anwenden kann.
In erzählender Form, fast als handele es sich um eine spannende Geschichte, habe ich den Menschen, mit denen wir arbeiten, die Philosophie meiner Arbeit zu vermitteln versucht. Ich weiß, dass sie mich verstanden haben, ich habe es in ihren Augen gesehen.
Dieses Projekt – Im Roten Rahmen: Ukraine… Was es ist und wie man es angehen muss, ist mir jetzt noch einmal viel klarer geworden!
Ich mache mir entsprechende Aufzeichnungen und versuche dann, den Prozess in mehrere Schritte zu gliedern:
– Das Kunstprojekt entfaltet also therapeutischer Wirkung – und bringt derweil, als materielles, sichtbares Produkt, in der Hauptsache eine sich allmählich entwickelnde Reihe von Bildern hervor, die in ihrem jeweiligen Roten Rahmen erkennbar werden.
Dieser erste Schritt wurde nun erfolgreich umgesetzt: in einem zwölftägigen Workshop, während rund 75 Arbeitsstunden in Kiew.
Alle sichtbaren Werke (Bilder im Roten Rahmen, Kacheln in „Stimmungsfarbe“, darauf die Verse, die aus dem Arbeitsprozess hervorgingen unter Anwendung der Techniken aus der „Apotheke der Poesie“) werden als nächstes in Berlin präsentiert (vom 13. bis 23. November 2023).
– Bei dieser Präsentation handelt es sich, wie gesagt, um eine interaktive Ausstellung (zudem um einen Workshop, insgesamt ein Work in Progress), zu welcher Geflüchtete eingeladen werden, die sich ebenfalls in Berlin aufhalten, aber eben nicht nur Geflüchtete aus der Ukraine! Unter dafür festgelegten Bedingungen wird der kreative Prozess des Roten Rahmens dann mit den Besuchern fortgesetzt.
Diesem Ansatz gemäß werden nun also neue sichtbare Werke hervorgebracht, die wir dann zusammen mit den Werken aus Kiew auf die gleiche Weise in einer weiteren Stadt, in der Geflüchtete leben, präsentieren werden.
Nach der Berliner Präsentation kann der Rote Rahmen, so schwebt es mir vor, als nächstes zum Beispiel auch Finnland (Helsinki), Polen (Warschau) und weitere Länder erreichen. – Ich hoffe innigst, dass wir dann nicht mehr allzu lange warten müssen, um diese rote Linie der Kunst gegen den Schmerz, die durch das erste Projekt „Im Roten Rahmen: Ukraine“ initiiert wurde, auch wieder…
STOPPEN
zu können und das Projekt mit einer letzten interaktiven Ausstellung in Kiew (mit allen Werken aus den verschiedenen Orten) zu beenden.
Die Rückkehr nach Kiew nämlich bedeutet, dass dieser Krieg vorbei ist!
Heute um 17:00 Uhr findet hier vor Ort eine öffentliche Präsentation aller Arbeitsergebnisse statt, als interaktives Treffen der Teilnehmenden mit den Besuchern!
Morgen früh beginnt dann das Abenteuer meiner Rückfahrt.
Reginas Tagebuch (Tag 13, Freitag)
Die traurige Nachricht mit Nikšas Mutter erreicht mich am Vorabend. Ich stelle es mir sehr schwer vor, trotz dessen noch die nächsten zwei Tage das Projekt zu Ende zu bringen. Ich biete also an, mehr Verantwortung zu übernehmen und leite die ersten 3 Stunden am vorletzten Tag.
Eigentlich wissen schon alle, was zu tun ist, denn es gab noch die Haikus und die Rezensionen, die alle bis zum letzten Tag fertig machen sollten. Es war außerdem eine neue Teilnehmerin da. Ich zeigte ihr Nikšas Methode der Apotheke der Poesie. Sie schrieb ein Haiku und machte ein Bild daraus – mit sehr klaren Farben und Worten einer Mutter von zwei kleinen Kindern.
Anschließend leitet Nikša noch einmal die Übung mit dem 10-Minuten-Lauf und den Masken an – denn es waren nicht alle da am Tag davor. 8 Minuten, 10 Minuten, 11:30 Minuten und 14 Minuten. Ich schneide etwas besser ab, als am Tag davor. Scheinbar ist es Übungssache, sich seinem eigenen Tempo bewusst zu werden
„Wer das Leben nicht mit Ruhe angehen kann, lebt nicht richtig“. Nikša erzählt uns verschiedene Dinge über Bewusstsein im Traum und im Wachzustand, über pränatales Bewusstsein und den Einfluss des pränatalen Lebens auf das Leben nach der Geburt. Dass wir eigentlich nur im Schlaf und im Traum richtig leben und was es für einen Unterschied macht, sich immer bewusst zu machen wie man aufgewacht oder aufgestanden ist.
Anschließend machen wir eine Auswertung und stellen uns gegenseitig unsere Arbeiten des Tages vor. Wir stellen auch unsere Idee vor, die interaktive Ausstellung doch stattfinden zu lassen, aber draußen im Park zu machen. Auch wenn nur 3 Teilnehmer*innen fest zusagen, dass sie kommen werden, kommt Freude auf.
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15.07.2023
Zwei Stunden vor der öffentlichen Präsentation unserer Arbeit kontaktiert mich Nigel Osborne, ein befreundeter Künstler und Musiker mit besonderem Talent; er ist auch in der Ukraine:
„Vielen Dank für diese wunderbaren Berichte … Ich bin derzeit auch in der Ukraine und leite ein kreatives Kunsttherapiecamp für Kinder aus der Region Saporischschja.
Ich war die meiste Zeit des letzten Jahres in den Regionen Lemberg, Charkiw und Tscherkassy, habe mit Kindern in Notunterkünften, Krankenhäusern und Frontdörfern gearbeitet, mit traumatisierten Soldaten, und habe Studenten an den Universitäten in kreativen künstlerischen Ansätzen zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen geschult..“
schreibt Nigel.
Art Against Pain sollte sich nun darum bemühen, verschiedenste Ansätze und Methoden zu bündeln; eine bessere Vernetzung könnte zur Sicherheit, Verzweigung und Kontinuität unseres Handelns beitragen.
Es geht auch darum, eine zusätzliche Möglichkeit zu finden, den Informationsfluss sowohl projektintern zu optimieren, als Informationen über das Projekt auch an Dritte zuverlässiger weitergeben zu können.
Ich möchte mich mit möglichst vielen Menschen treffen, die bereits an ähnlichen Programmen arbeiten, um die Bildung von Teams zur Bewältigung einzelner Projekte anzuregen.
Es ist notwendig, die tägliche Arbeit an der Gestaltung der Initiative Art Against Pain fortzusetzen.
Reginas Tagebuch (Tag 14, Samstag)
…Wir schaffen es mit einigen Parkbesucher*innen in Kontakt zu kommen, ihnen zu erklären was wir gemacht haben und einige malen selbst auch Bilder im Roten Rahmen. Anfangs waren es vor allem Kinder, die etwas malten. Für Erwachsene war es eine größere Hürde.
Viele Kinder malten Flugzeuge oder Bomben. Sie malten es ganz selbstverständlich und mit kindlicher Freude, so wie Blumen, Häuser oder Bäume.
„Dieser große Regenschirm, der vor unserer Stadt aufgestellt ist, schützt uns vor Raketenbeschuss“, erklärte der Elfjährige.
Nikša schaffte es die Eltern auch etwas mit einzubeziehen und… die füllten das Bild ihrer Kinder weiter aus.
…
Die Abschiedsumarmungen waren lang, die Abschiedsworte warm. Es war schön zu hören, dass das Projekt für einige wirklich Veränderung gebracht hat.
Für mich hat es das auch.
„Kämpfe und du kannst gewinnen“ – Vers von Taras Shevchenko.
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ART AGAINST PAIN
KUNST GEGEN DEN SCHMERZ
(Kiew, 28.06. – 15.07.2023)